Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Zwischen weidenden Schafen auf über 2000 Meter Höhe liegend, die Bergschuhe abgestreift, und in den kitschig weiß-blauen bayerischen Himmel blinzelnd, drängt sich mir Reinhold Mays Song auf. Bis zur Scharte schweißtreibender Aufstieg. Daheim hatte ich selbst die Zahnbürste auf die Briefwaage gelegt; nur kein Hemd zu viel einstecken. Schließlich musste ich ja auch mein Einmannzelt mitschleppen.
Der Rucksack zerrte an meinen Schultern, als wollte er mir Flachlandtiroler meinen rechten Platz auf Erden zuweisen. Nicht nur er. Auch die politischen Verhältnisse bis letzten Herbst klebten mich DDR-Bürger an Landschaften, deren höchste Erhebung gerade einmal einen Tausender bot. Dabei waren wir stolz wie Spanier – ich habe zwar noch nie einen erlebt -, wenn wir den Fichtelberg im Winter mit unseren Skiern hinabrutschten. War ja auch schön. Eben alles zu seiner Zeit.
Aber das hier, das lag außerhalb meiner Traumwelten: Kaum habe ich die Nase über die Scharte gesteckt, stehe ich im Sonnenschein, die Wolkensuppe mir zu Füßen wie eine Daunendecke. Muss mich richtig bremsen, da keinen Köpper rein zu machen. Kann verstehen, dass da mancher übermütig wird und dem Drang, zu springen nicht widersteht.
Seit ich über der Baumgrenze bin, hab ich beim Atmen ein bislang ungekannt freies Gefühl. Abheben könnte ich, wenn ich könnte. Die empfundene Freiheit hat für mich allerdings noch eine weitere Dimension. Geboren im Jahre der Staatsgründung, war ich in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass ich frühestens am Tage nach meinem 60. Geburtstag die innerdeutsche Grenze passieren dürfte. Ich hoffte, dann noch rüstig genug zu sein; denn zu meinen Reisezielen gehörten, seit ich denken konnte, die Alpen. Wie oft hatte mein Opa mir davon vorgeschwärmt und meine Augen zum Leuchten gebracht. Seine mickerigen Schwarz-weiß-Fotos gaben nur schwach wieder, was sich jetzt dreidimensional und farbig vor mir ausbreitet. Der Heilbronner Weg, hart an der österreichischen Grenze, sei der schönste Klettersteig! Da müsse ich mal hin. Das sei viel erhebender als all die Erlebnisse mit den Mädchen. Hat der Opa gesagt.
Das nachzuprüfen, habe ich mich eingereiht in das Heer der Bergwanderer. Die ersten „zünftigen“ Bayern mit ihren bestickten Hosenställen und Gamsbart-Büscheln an den Hüten waren schon etwas gewöhnungsbedürftig. Auch ihre Redeweise. Ich war noch beim Aufstieg, als mir, fröhlich abwärtshüpfend, ein Einheimischer entgegenkam. Freundlich forderte er mich auf: „Grüß Gott!“ Ich sah ihn überrascht an und entgegnete: „Sooo weit nach oben will ich eigentlich nicht.“ Er stutzte, dann lachte er laut, dass von allen Seiten das Echo einstimmte. Peinlich. Aber woher soll unsereins wissen, dass man sich hier immer so grüßt?
Nun bin ich beileibe nicht der Einzige von drüben. Offenbar hatten noch viele Jungs solche Opas. Ich höre immer wieder Sachsen, Anhalter, Thüringer. Manche sind unterwegs, die hatten in den Kriegsjahren schon mal das Vergnügen, hier zu sein. Nun wollen sie es nochmals wissen. „Noch einmal die Alpen sehen und dann sterben“, habe ich von manchem alten Knacker gehört. Wenn man die so sieht, zäh und grau, dann ist zu befürchten, dass sie das sogar hinkriegen, das volle Programm. So stelle ich mir das letzte Aufgebot des Volkssturms vor. Wobei das hier auf alle Fälle erhebender ist, als die beschissene Aufgabe im Frühjahr 1945.
Auf dem Klettersteig muss man sich stellenweise über Leitern fortbewegen. Eine liegt über einem tiefen Spalt. Auf beiden Seiten sind Führungsseile gespannt; also überhaupt kein Problem. Doch vor mir jammert ein Berliner: „Wozu tu ick mir det an? Daheim hab ick Weib und vier Kinder! Die armen Würmer, wenn die nun Halbwaisen werden! Ach jemmerschnee! Alter schützt vor Torheit nicht.“
Auch ich werde übermütig. Obgleich es die Tagestour um anderhalb Stunden verlängert, kraxel ich hinauf auf die am Wege liegenden Gipfel. Die Mädelegabel kannte ich nur aus den Zoten meiner Kumpel. Nun besteige ich sie. Am Gipfelkreuz werde ich mit einer grandiosen Aussicht belohnt.
Nun wünsche ich mir ja doch eine vertraute Seele an meine Seite, mit der ich diese ungeträumten, nicht vorstellbaren Eindrücke teilen könnte. Aber man kann nun mal nicht alles gemeinsam mit der besten aller Frauen – oder dem besten aller Männer - unternehmen. Das scheint vielen so zu gehen. Es ist schon auffallend, wie viele Ehehälften sich hier oben tummeln, beiderlei Bautypen.
Der Andrang ist jedenfalls gewaltig, die Hütten platzen aus allen Mauerfugen, und ich beglückwünsche mich zu meinem Entschluss, mein kleines Zelt eingepackt zu haben. Ehrlich gesagt, war ich auch zu knauserig, das schöne frische Westgeld für Übernachtungen auszugeben. Noch dazu mit 20 schnarchenden und vor sich hin muffelnden Fremden im Matratzenlager!
Beim Einpacken daheim half mir mein Sohn. Also, ich hatte geglaubt, er wollte behilflich sein. Zuvor hatte er gequengelt, ich sollte ihn doch mitnehmen. Aber nee, das nächste Mal vielleicht. Fürs Erste muss ich wirklich frei sein, um die Freiheit zu genießen. Ohne Verantwortung für wen auch immer. Frei nach Schiller: Der brave Mann denkt an sich selbst! Als schon alles verstaut war, fummelte der filius noch immer am Rucksack rum. Auf meine Frage, was er da triebe, behauptete er, er wollte mir noch Traubenzucker einpacken, das solle gut gegen müde Muskeln sein. Ich hab’s geglaubt und ihn noch dafür gestreichelt, ich Dösbacke! Also, der Traubenzucker war wirklich in einer Seitentasche. Aber der dicke Hund war, als ich am ersten Abend hoch droben auf dem Berg mein Zelt aufbauen wollte, da kriegte ich erst mal einen kleinen Tobsuchtsanfall. „Verdammt und zugenäht“ war noch das Harmloseste. Der verflixte Bengel hatte doch tatsächlich mein Zelt mit großen Stichen zugenäht. War wohl seine hinterhältige Rache, dass ich ohne ihn losgezogen bin. Zum Auftrennen steckte zum Glück in einem Lederetui mein Hirschfänger, auch noch von meinem Opa. Schweizer Taschenmesser haben ja nur die Wessis. So war die erste Nacht unter den funkelnden Sternen gerettet. Die Murmeltiere haben mich in den Schlaf gepiepst.
Zuvor bin ich aber doch noch auf ein Radler in die nahe Hütte gepilgert. Es war gerammelt voll, aber urgemütlich. Die Bergkameraden der verschiedenen Bundesländer boten sich einen regelrechten Sängerwettstreit. Dass Deutschland so vielfältig ist, war mir ganz neu. Von manchen Liedern habe ich den Text gar nicht verstanden. Von einem Sauerländer zum Beispiel. Aber viele Berg- und Wanderlieder konnten alle mitsingen. Ich musste mich nur bremsen, das Lied vom Rennsteig anzustimmen. Da hätten wohl die Wessis unverständlich geglotzt.
V2 @ Thea Derado
Letzte Aktualisierung: 14.05.2014 - 21.20 Uhr Dieser Text enthält 6750 Zeichen.