Liebesgeschichten ohne Kitsch? Geht das? Ja - und wie. Lesen Sie unsere Geschichten- Sammlung "Honigfalter", das meistverkaufte Buch im Schreiblust-Verlag.
Sein Leben bestand aus einer Kette von Missgeschicken. Selbst anfangs scheinbar gute Zeiten erwiesen sich im Nachhinein als Irrtum, entpuppten sich im besten Fall als kleine Störfälle, wurden hin und wieder gar richtige Tragödien.
Es begann damit, dass er in die falsche Familie geboren wurde. Das war nicht seine Schuld. Wie auch? Er konnte schließlich nichts dafür, dass sich zwei Menschen begegnet waren, die seine Erzeuger wurden. Eine zufällige, alkoholbedingte Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau. Rosenmontag. Sie setzten zwanzig Millionen kleine, schwanzwedelnde, wetteifernde Spermien in Bewegung. Er gewann das Rennen. Welch ein Sieg!
„Oh verdammt“, lautete der knappe Kommentar seiner Mutter. Der Vater konnte keinen abgeben, denn der verschwand bereits am Aschermittwoch. Man ließ ihn nur sieben Monate wachsen. Zwei Monate zu früh kam er zur Welt – klein, schwach, ungeliebt. Ein Unglück ja, doch keine Tragödie. Die Mutter nannte ihn Bruno.
Seine Kindheit verlief unbemerkt. Er besuchte nie einen Kindergarten. Sein Spielplatz war die Straße. Schulfreunde hatte er keine. Familie auch nicht. Die Mutter lebte in ihrer eigenen Welt. Ein Vater war nicht vorhanden. Die Lehrer gaben sich Mühe.
Zu seinem eigenen Erstaunen fand er auf Anhieb eine Lehrstelle. Welch ein Glück! Bruno – selbst seinen Namen empfand er als Missgeschick – konnte es nicht fassen. Er arbeitete in einer Schreinerei. Dort gefiel es ihm richtig gut. Der Umgang mit Holz bereitete ihm Freude. Weil sich der Weg von zu Hause, das kein Zuhause für ihn war, ohne Busverbindung als ziemlich umständlich erwies, durfte er für einen sehr geringen Mietpreis in einem kleinen, dunklen Zimmer im Dorf nahe der Schreinerei wohnen. Obwohl seine Ausbildungsvergütung karg bemessen war, kam Bruno damit aus.
Die Vermieterin war eine fast Achtzigjährige, deren Gedanken sich ab und zu verirrten. Seit Bruno bei ihr wohnte, geschah das immer öfter. Dann glaubte sie, wieder achtzehn zu sein und machte ihm schöne Augen. Er tat, als bemerke er es nicht. Bis er eindeutige Angebote erhielt.
„Verdammt, lass mich in Ruhe“, murmelte er und lief schnell in sein Zimmer.
Trotzdem hatte er zum ersten Mal das Gefühl, sein Leben sei keine Kette von Missgeschicken mehr. Bis er mit der linken Hand in die laufende Kreissäge geriet. Der Rettungswagen kam schnell. Das half aber auch nicht wirklich. Notoperation, vier Wochen Krankenhaus, Reha, Arbeitsamt, Umschulung. Bruno schien die Katastrophen einfach anzuziehen.
Dann hatte er eines Tages wieder einmal Glück. Er zog in die Stadt. Ein dort ansässiger, internationaler Konzern stellte ihn ein. In diesem Betrieb arbeiteten so viele Menschen, dass er in der Masse unterging. Das gefiel ihm. Sein unmittelbarer Vorgesetzter war ein netter und umgänglicher Mann. Bruno mochte ihn auf Anhieb. Bald waren sie per du. Waldemar trank ein bisschen viel. Das störte Bruno schon ein wenig, doch sonst konnte er gut mit ihm auskommen. Auch Waldemar war nicht gerade ein Glückspilz gewesen, hatte sich trotzdem ganz gut durchs Leben geschlagen. Seit kurzem lebte seine Tochter bei ihm, nachdem ihre Mutter sehr plötzlich verstorben war. Bruno war ihr bisher erst zweimal flüchtig begegnet. Waldemar fand Familie wichtig. Deshalb hatte er sich auch irgendwann kurzer Hand zu Brunos Ersatzvater erklärt, weil der seinen richtigen nicht kannte. Inzwischen hatten beide das Gefühl, die ewigen Missgeschicke in ihrem Leben gehörten der Vergangenheit an.
An einem schönen Sommerwochenende wurde in der Stadt Kirmes gefeiert. Bruno und Waldemar verabredeten sich auf dem Rummelplatz.
„Ich bringe Tina mit. Da habt ihr mehr Zeit zu reden und könnt euch endlich richtig kennenzulernen.“
„Okay, meine Mutter wird auch da sein. Sie kommt so selten hierher, da will ich ihr nicht absagen. Ich finde, es wird ihr gut tun, mal etwas anderes zu sehen, als immer nur ihre eigenen vier Wände.“
„Wie sieht sie denn aus, deine Mutter?“
Bruno lachte.
„Ich glaube, die wäre dein Typ. Na ja, jedenfalls wenn sie Lust hat, sich zurecht zu machen. Früher war die sehr hübsch. Jetzt raucht und trinkt sie ein bisschen viel. Das steht ihr nicht.“
Waldemar lachte auch. Es klang nicht besonders fröhlich, sein Lachen.
„Na, wenn sie gern einen hebt, passen wir doch zusammen. Und meine Haut ist schließlich auch nicht mehr jugendlich straff. Wie alt ist denn deine Mutter?“
Darüber musste Bruno erst mal nachdenken.
Es wurde ein feucht-fröhlicher Nachmittag. Bruno wusste bald, wer Tina bekommt, ist ein Glückspilz. Und er wollte einmal im Leben auch ein Glückspilz sein. Tina mochte ihn ebenfalls. Das spürte er. Dann kam Anna, Brunos Mutter. Sie erkannten sich sofort. Anna und Waldemar. Obwohl sie damals nur eine einzige Nacht hatten. So erfuhr Bruno, wer sein Vater war. Erst freute er sich. Dann sah er Tina an.
„Scheiße! Warum immer ich?“, stöhnte er.
Bruno heiratete ein paar Jahre später die Theresa aus der Bäckerei Brunner. Sie war ein paar Jahre älter als er. Mit seiner Wahl hatte er Glück. Glücklich wurde er nicht.
Sein letztes Missgeschick passierte ihm bei seinem Tod.
Eines nachts sprang er von einer Brücke. Ein Spaziergänger beobachtete ihn, rief Polizei und Rettungskräfte. Die zogen ihn aus dem Fluss.
„Verdammt noch mal, nicht mal einen ordentlichen Selbstmord kriege ich hin“, beschwerte er sich bei einer Krankenschwester. Nach drei Wochen war er trotzdem tot. Lungenentzündung durch Unterkühlung.
Glück gehabt.
Version 2
Letzte Aktualisierung: 20.05.2014 - 16.01 Uhr Dieser Text enthält 5506 Zeichen.