Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Verdammt und zugenht | Mai 2014
Familie macht glücklich
von Thomas Wüstemann

In der Zentrale des Callcenters waren schon immer Trennwände zwischen den Arbeitsplätzen gewesen. Natürlich, man wollte ja nicht das eigene Telefonat durch den lautstarken Kollegen stören lassen. Seit aber Waltraud an Platz Nummer 42 arbeitete, waren die Wände durch Eierkartons verstärkt worden und manch einer hatte sie so zurechtgerückt, dass kein einfaches Hineinkommen in die Parzelle mehr möglich war, es sei denn, man schob die Wandteile in einem Kraftakt zur Seite. Was diese Kollegen jeden Morgen zum Arbeitsbeginn und jeden Nachmittag zum Feierabend taten. Um sich vor Waltraud zu schützen.
Morten konnte aus seinem eigenen kleinen Kabuff durch einen Spalt in den Trennwänden direkt auf Waltraud blicken. Gleich würde es wieder losgehen. Er sah schon die kleine Ader auf ihrer Stirn ticken.
“VERDAMMT UND ZUGENÄHT!”
Die Eierkartons vibrierten und gaben sich redlich Mühe, den Lärm zu schlucken. Morten hatte Schwierigkeiten, seinen eigenen Kunden zu verstehen. “Was war das?”, fragte der gerade, aber was hätte er antworten sollen? Zumal es noch nicht vorbei war.
“NEIN, SIE KÖNNEN NICHT MEINEN VORGESETZTEN SPRECHEN! HAB ICH IHNEN NICHT VERSUCHT ZU HELFEN? NICHT MEIN PROBLEM, DASS SIE MIT SO DEPPERTEN FRAGEN ANKOMMEN!”
Genauso lautstark, wie sie geschrien hatte, knallte sie nun das Headset auf den Tisch. Waltrauds Variante, den Hörer aufzulegen. Morten vermutete, dass sie zuhause noch immer ein Telefon mit Wählscheibe hatte. Waltraud: Die Definition der Nachkriegsgeneration. Stets mit Wut im Bauch und voll mit Ratschlägen. Polterte durchs Leben wie eine Trümmerfrau, die nicht gemerkt hatte, dass die Häuser längst wieder standen.
Aus seiner Box heraus beobachtete er, wie Waltraud sich eine Zigarette ansteckte und tief inhalierte, wie die pochende Ader auf der Stirn an Kontur verlor. Gott, wie er sich selbst nach einer Zigarette sehnte, aber ER konnte sich nicht erlauben, am Platz zu rauchen, und er hatte noch drei Kunden in der Warteschleife. Und einen am Apparat.
“Sind sie noch dran?”, kam es aus den Kopfhörern. Morten wandte den Blick wieder auf den Monitor. “Äh, ja. ‘Tschuldigung. Also, wie ich schon sagte, kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Sie müssen sich an den Support in Ihrer Stadt wenden.”
“Da hab ich schon angerufen. Und die sagen, SIE sind zuständig. Jeder sagt mir was anderes.”
“Es tut mir leid, aber ...”
“Nein, mir reicht’s. Was ist denn das überhaupt für ein dämlicher Support? Da weiß die eine Hand nicht, was die andere macht.”
Eine Zigarette, dachte Morten. Jetzt eine Zigarette. Tief atmete er durch, stellte sich vor, wie der Rauch durch seine Lunge zog. Ruhig bleiben.
“Oh, wir wissen schon, was unsere Hände tun, Herr Magelow. Das Ding ist nur, dass wir nicht verstehen, was SIE tun. Ein Problem wie das Ihre lässt nicht auf sachgemäßen Umgang mit unserem Produkt schließen.”
Autsch, das ging übers Ziel hinaus. Wieder so eine Sache, die sich zwar Waltraud erlauben konnte, aber nicht ER. Schnappatmung am anderen Ende der Leitung. Bevor der Kunde antworten konnte, sagte Morten: “Sie können gern eine Mail schreiben und sich schriftlich über den Service beschweren. Mein Name ist ...”
“Das können Sie verdammt nochmal glauben, dass ich mich beschwere!” Ein rotes Blinken auf dem Monitor zeigte ihm, dass die Verbindung unterbrochen war. Morten atmete tief durch. Vier Kunden in der Warteschleife. Ade, Zigarettenpause. Er setzte ein grünes Häkchen an die Sperrtaste, um weitere Anrufe auf seine Kollegen umzuleiten. Als er den nächsten aufs Headset legen wollte, meldete sich mit rotem Warndreieck die interne Leitung.
“Platz 41, Morten Schönbaum?”
“Fitzeck, Qualitätskontrolle. Herr Schönbaum, ich habe ihr letztes Gespräch bereits ans Management weitergeleitet. Ihre Unfreundlichkeit hat ein Level erreicht, das so nicht mehr tragbar ist. Wir werden bei der nächsten Qualitätssitzung über Konsequenzen zu reden haben.”
Na toll. Morten hasste die Meetings, bei denen Gesprächsaufzeichnungen vorgespielt wurden. Wie er vermutete eher aus Gründen der Demütigung, als zur Schulung. Jetzt also war er an der Reihe.
Er drückte den Toilettenknopf, der bildschirmfüllend den sieben-Minuten-Countdown startete. Er würde JETZT SOFORT eine Zigarettenpause machen.

***

Die QAM - Quality Assurance Meetings - fanden regelmäßig zum Beginn der Woche statt, sechs Uhr in der Früh. Morten brauchte dringend einen Kaffee. Und eine Zigarette, verdammt. Er hasste es, seine eigene Stimme zu hören. Die Lautsprecher in dem kleinen Raum plärrten die entscheidenden Worte seines Telefonats: "... dass wir nicht wissen, was SIE tun ..." Das fiepende Geräusch des zurückspulenden Bandes. Dann wieder: "... was SIE tun ..." Fiep. "... SIE tun ..."
Knarzend brach die Aufzeichnung ab. Es herrschte vollkommene Stille, die erst durch ein lautes Klicken gebrochen wurde. Waltraud, die sich eine Zigarette anzündete. Die anderen schwiegen und waren bemüht, wegzuschauen.
Markus Fitzeck, Leiter der QA, tippelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch und sagte: "Die Firma 'Schmiedt & Meyer' hat einen Ruf zu verlieren, Herr Schönbaum. Wir sind die Freundlichsten auf dem Markt. Wir sind die Versiertesten. Wir sind immer die Schuldigen, nie der Kunde."
Mehrere Blicke im Raum gingen zu Waltraud. Sie sah eigentlich noch genau so aus, wie an dem Tag, als ihr Sohn sie aus der häuslichen Langeweile in die Firma geholt hatte. Auch wenn sie wohl der Meinung war, sich arbeitsfein zu machen, wirkte es doch so, als hätte sie eben noch rechtzeitig zum Arbeitsbeginn die Kittelschürze abgelegt. Eben ganz die herrische Hausfrau, für die immer die anderen die Schuldigen waren. Fitzeck ignorierte die Implikation der Blicke: "Herr Schönbaum, sie haben dem Kunden vermittelt, er wäre selbst schuld an seinem Problem. DAS IST UNTER KEINEN UMSTÄNDEN ZU DULDEN! 'Schmiedt & Meyer' ist eine treusorgende Familie. Für ihre Angestellten. Und ihre Kunden."
In das Schweigen hustete Waltraud zähen Raucherschleim die Lunge hoch, nahm noch einen Zug und war dann sicher, alle Aufmerksamkeit auf sich zu haben: "IHR HABT SE DOCH NICHT ALLE! DAS SIND DIE LETZTEN DEPPEN, DIE HIER ANRUFEN. DA KANN MAN SICH NUR WEHREN, WENN MAN SIE WIE DEPPEN BEHANDELT."
Fitzeck knetete nervös die Hände vor dem faltenfreien Anzug. Suchte die Blicke der anderen Anwesenden. Aber er war ganz allein: "Hchm", begann er. Und: "Frau Schmiedt", fuhr er fort. Nachdem er innerlich jedes Wort abgewägt und einige wieder verworfen hatte, sagte er schließlich: "Wir alle respektieren Ihre Ansichten. Seien Sie gewiss, dass jeder hier Sie als wichtigen Teil des Unternehmens versteht. Der Familie. Nur, bitte, dies betrifft allein Herrn Schönbaum."
In diesem Moment flog die Tür auf und mit der kühlen Luft aus der Zentrale des Call-Centers kam eine ungewohnte Duftwolke in den Raum, die an einem makellosen Anzug haftete, als gehörte sie von Natur aus dazu. Wolfgang Schmiedt durchquerte mit ausladenden Schritten den Raum und baute sich vor seinen Angestellten auf. "Hallo Mutti", nickte er in Waltrauds Richtung. "Hallo zusammen", begrüßte er die versammelte Mannschaft. Und indem er seine Begleitung, eine attraktive und ebenso makellos gekleidete Mittdreißigerin, vor sich schob: "Meine Herren, meine Damen, darf ich Ihnen einen Neuzugang in unserem Team vorstellen? Sie kennen sie bereits von unserem Firmenschild. Frau Meyer hier ist die Tochter des alten Herrn und wird uns fortan im internationalen Marketing verstärken."
Erst jetzt bemerkte Schmiedt die angespannte Atmosphäre im Raum. Verwundert drehte er sich zu Fitzeck um, der im Verlauf der letzten Minute immer kleiner geworden war. "Ich hoffe, ich habe nicht gestört?"
Achselzuckend sagte Fitzeck: "Wir waren bei der Auswertung eines Telefonats von Herrn Schönbaum hier. Es ging ganz allgemein um Kundenfreundlichkeit."
Schmiedt schaute auf Morten und musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Morten brauchte ganz dringend eine Zigarette. Hätte er doch nur den selben Stand wie Waltraud, die alte Hexe. Familie. Letztlich war es doch mehr als ein leeres Wort.
Bevor Schmiedt noch ein Wort verlieren konnte, trat dessen hübsche Begleiterin vor und sagte: "Kann denn ein solches Gesicht unfreundlich sein?"
Und plötzlich sah Morten seine Chance, die Zigarettenmisere ein für alle mal für sich zu entscheiden.“
"Nein", sagte Morten mit seinem charmantesten Lächeln. "Wir bei 'Schmiedt & Meyer' sind doch eine Familie. Und in Familien sollte man immer freundlich sein."
Frau Meyer nickte zustimmend.

***

Vier Monate später saß Morten noch immer zwischen Eierkartons, noch immer mit gutem Blick auf Waltraud und mit dem richtigen Auge dafür, wann sie explodieren würde. Wann die kleine Ader auf ihrer Stirn anfangen würde zu ticken.
Aber wenn sie anfing zu brüllen, konnte er es viel besser ertragen. So viel hatte sich verändert.
Mit einem Lächeln dachte er an die Hochzeit zurück. Waltraud hatte in der ersten Reihe gesessen und sie hatte sich gut benommen. Statt zu brüllen, war sie an den richtigen Stellen in Freudentränen ausgebrochen. Und der Brautvater - oh, dessen Tränen waren gar nicht zu halten gewesen. Voller Stolz hatte der alte Meyer aus der ersten Reihe auf seine Tochter geschaut und bei jedem Wort des Pfarrers das Gefühl ausgestrahlt, alles richtig gemacht zu haben, als er sie in die Firma geholt hatte. Auch Morten hatte das Gefühl, dass vieles richtiggelaufen war. Tanja Meyer geheiratet zu haben, hatte sein Leben erleichtert. Ob er sie liebte, zählte da wenig. Am Ende ging es doch nur darum, glücklich zu sein.
Familie macht glücklich, dachte Morten, und zündete sich genüsslich eine Zigarette an, während er den nächsten Anrufer auf die Leitung legte.

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Letzte Aktualisierung: 25.05.2014 - 21.12 Uhr
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