„Können Sie denn nicht aufpassen?! Sie Trampel!“
Albert zuckt erschrocken zurück, als die ältere Frau ihn in der S-Bahn unvermittelt anfährt. Dabei ist er sich keiner Schuld bewusst, hat die olle Schrulle nicht mal berührt. Natürlich schauen ihn nun alle Fahrgäste an, die meisten entrüstet. Ganz so, als hätte er der Frau einen unsittlichen Antrag gemacht. Erst als ihm das grinsende Gesicht des bulligen Kerls neben sich auffällt, erkennt er die Zusammenhänge. Nicht er hat der immer noch wütend krakeelenden Hexe auf die Haxen getreten, sondern dieser Fiesling war es.
Albert setzt schon zu einer Aufklärung des Sachverhalts an, da verändert sich das Gesicht des wahren Übeltäters auf beängstigende Weise.
Die Augen, die Albert fixieren, werden aschgrau und drohend. Der unangenehme Typ fletscht die Zähne wie ein Haifisch auf dem Trockenen. Die Nachricht ist nicht misszuverstehen, und so zieht Albert es vor, eine Entschuldigung zu murmeln und an der gerade angefahrenen Haltestelle die Flucht zu ergreifen. Lieber auf die nächste Bahn warten, als sich weiter den anklagenden Blicken der Fahrgäste und dem Gezeter der Getretenen auszusetzen. Ganz abgesehen von dem unzurechnungsfähigen Wüterich.
Zu seinem Leidwesen muss Albert fast eine halbe Stunde warten, bis er weiterfahren kann. Die nächste Bahn ist hoffnungslos überfüllt, und als er versucht, sich trotzdem hineinzudrängen, bekommt er einen heftigen Tritt vors Schienbein.
So kommt er lädiert und viel zu spät im Büro an, und selbstverständlich begegnet er als Erstes seinem Chef, dem er seit Wochen nicht mehr über den Weg gelaufen ist.
„Sieh an, der Herr Porto! Braucht eine Extraeinladung. Wahrscheinlich hat man es Ihnen nicht gesagt, aber: Das hier ist Ihre Arbeitsstelle! Nicht der Kindergarten oder das Studentenwohnheim! In einer halben Stunde sind Sie bei mir im Büro, und zwar so was von pünktlich!“
Mehr als ein leises „Jawohl, Herr Kannengießer“ bringt Albert nicht zustande. Auf schnellstem Weg begibt er sich zu seinem Arbeitsplatz und fährt den Rechner hoch. Jedenfalls versucht er es, denn auf dem Bildschirm erscheint nur eine in bunten Farben schillernde Fläche. Alle Welt hat sich gegen ihn verschworen! Bis er den PC-Service an die Strippe bekommt, vergehen gut und gerne zwanzig Minuten.
„Hallo, ich habe ein Problem. Mein Bildschirm funktioniert nicht, der muss repariert werden. Oder am besten gleich ausgetauscht, denn ich habe dringende Arbeiten, die bis Mittag erledigt sein müssen. Aber jetzt muss ich zum Chef und zwar sofort, ich habe keine Zeit zu warten, bis ihr hier seid.“ Eine Antwort kann Albert nicht mehr abwarten, sonst kommt er zu spät.
„Sie wollen zu Herrn Kannengießer? Haben Sie einen Termin?“, fragt ihn die Chefsekretärin mit einem Blick, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Mit ihr hat Albert nur ungern zu tun, denn erstens ist Frau Sägebruch eine unerträgliche Besserwisserin und zweitens ist sie eine Freundin seiner Mutter und wohnt im selben Haus wie er - seit jeher für ihn ein klarer Beweis für die Existenz des Teufels. Sie hat ihn einmal erwischt, wie er im Keller die Gemeinschaftstoilette trotz des „Sei kein Ferkel, setz dich“-Schildes im Stehen benutzte. An diese Episode denkt er besonders ungern zurück.
„Ja, ich soll um neun Uhr bei ihm sein.“
„Na gut.“ Mit dem Kinn weist sie auf einen Stuhl neben der Tür. „Er wird Sie rufen, wenn er Zeit für Sie hat.“
Alberts Geduld wird auf eine harte Probe gestellt. Um halb zehn endlich reißt Herr Kannengießer die Tür auf und ruft lautstark nach Albert.
„Wo bleiben Sie denn, Sie Träne?! Seit einer halben Stunde warte ich auf Sie!“, faucht er ihn an, noch bevor die Tür zum Vorzimmer hinter ihm ins Schloss fällt.
„Ich habe doch … ich war doch …“, versucht Albert sich zu rechtfertigen, aber er wird jäh und rüde unterbrochen.
„Schnauze! Wenn ich sage pünktlich, dann meine ich es auch so. Merken Sie sich das!“
Die nächsten Minuten gehören nicht zu den Sternstunden in Alberts Berufsleben. Anschuldigungen, Beleidigungen und Drohungen halten sich in etwa die Waage, und als er das Zimmer wieder verlässt, grinst ihn Frau Sägebruch an, als wäre er eine Stubenfliege, die am Klebepapier zappelt.
Zurück an seinem Arbeitsplatz stellt Albert fest, dass der kaputte Bildschirm verschwunden ist. Ersatzlos! Eine unübliche, verhängnisvolle Leere macht sich auf dem Schreibtisch breit.
„Verdammt, ich muss den Bericht bis 12 Uhr fertig haben!“, beschwert er sich bei niemand Bestimmtem, doch seine beiden Kollegen schauen ihn trotzdem missbilligend an.
„Die haben gesagt, Sie hätten ihn kaputt gemacht. Von alleine passiert so was nicht“, stürzt sein Zimmergenosse Albert in Bedrängnis.
„Das kann doch nicht wahr sein“, flüstert Albert vor sich hin und ruft erneut in der PC-Abteilung an. Nur um zu erfahren, dass er am heutigen Tag mit keinem Bildschirm mehr rechnen könne.
„Und was soll ich jetzt machen?“, fragt er verzweifelt den Kollegen am anderen Ende der Leitung.
„Fragen Sie sich durch, wer seinen Rechner heute nicht braucht.“
Kaum ist Albert draußen, blickt er in das grinsende Gesicht der Sägebruch. Verdammt, sie hat alles mitbekommen. Wieso taucht sie überall auf …? Aber das ist nun auch schon egal.
Mittlerweile knurrt sein Magen, denn er hat seit dem gestrigen Abend nichts mehr gegessen. Ein Frühstück bekommt er sowieso nicht herunter, morgens ist ihm absolut nicht nach Essen zumute. Doch er muss noch einen Bericht zur Qualität des Kantinenessens verfassen. Die Ergebnisse der Erhebung sind zum Glück nicht auf seinem Rechner gespeichert, sondern im Firmennetz. So kann er ihn auch am PC seines Kollegen erstellen.
Nach vier Stunden intensiver Konzentration steht der Bericht. Albert ist zufrieden mit sich. Zwar geben seine Eingeweide inzwischen Geräusche von sich, die an einen hungrigen Braunbär erinnern, und seine Kollegen schauen ihn jedes Mal an wie einen Verbrecher, aber jetzt kann er nach Hause gehen und sich den Bauch mit Pizza, seinem Lieblingsgericht, vollschlagen.
Genau in diesem Moment hängt sich der Rechner des Kollegen auf. Albert braucht zehn Minuten, bis er ihn wieder zum Laufen gebracht hat, und weitere zwei, um zu erkennen, dass es auf diesem Rechner keine automatische Speicherung gibt wie auf seinem. Es gibt einfach keine, da kann er sich auf den Kopf stellen. Und weil er sich darauf verlassen hat, ist der komplette Bericht zum Teufel. Wie zum Hohn leuchtet ihm die Überschrift entgegen, als er das Dokument öffnet. Alles andere ist im Orkus gelandet. Nach einigen immer hektischer werdenden Versuchen, noch etwas zu retten, gibt er auf. Man muss erkennen, wann man verloren hat.
Morgen wird er eingestehen müssen, dass er auch diesen Bericht nicht fristgerecht liefern kann.
Auf dem Weg nach Hause sieht er in der S-Bahn den Typen vom Morgen wieder. Der Kleiderschrank auf Beinen tritt eben einer älteren Dame mit all seinem miesen Gewicht auf die kleinen Füße. Als die aufschreit und sich beschwert, raunzt er sie an: „Pass doch auf, wo du deine dreckigen Füße hinstellst!“
Zu Hause sieht er Frau Sägebruch, die den Kopf mit seiner Mutter zusammensteckt. Als er näherkommt, hört er, wie die Schnepfe seiner Mutter haarklein erzählt, was er heute alles falsch gemacht hat und seine diversen Fettnäpfchen detailreich aufzählt. Dabei wollte er seine Mutter um hundert Euro anpumpen. Das kann er sich abschminken, da ist mit Sicherheit nichts mehr zu holen. So schleicht er sich an den beiden vorbei und steuert sein Zimmer an.
Kaum ist er eingetreten, wuselt Purzel, der sauhaarfarbene Rauhaardackel auf ihn zu und bellt vor Freude. Er wedelt mit dem Schwanz und schaut Albert mit seinen treuen Augen fröhlich an - die Wiedersehensfreude in Person.
„Von dir lass ich mir nicht auf dem Kopf herumtanzen!“, schreit Albert ihn unvermittelt an.
Der kleine Dackel, solche Töne nicht gewohnt, zieht erschrocken den Schwanz ein und kriecht unter den Tisch.
Doch Albert ist noch nicht fertig mit ihm.
„Du bist eine Misttöle und zu nichts nutze! Ich werde dich davonjagen wie einen … einen Hund!“, fährt er im gleichen wütenden Tonfall fort und überhört geflissentlich das Winseln der geplagten Kreatur. „Du glaubst wohl, du kannst dir alles erlauben, was?! Mit mir nicht! Nicht mit mir!“
Ohne seinen haarigen Zimmergenossen eines weiteren Blicks zu würdigen, zieht Albert die Kleider aus, geht ins Badezimmer und stellt sich unter die heiße Dusche. Dort steht er einige Minuten bewegungslos und woraus die Perlen auf seinen Wangen bestehen, ist nicht zweifelsfrei feststellbar.
„Das musste doch mal gesagt werden!“, flüstert er fast unhörbar.
Im Rauschen des Wassers bekommt er nicht mit, wie im Nebenzimmer der kleine Purzel mit steil aufgerichteter Rute den Hamster in seinem Käfig ankläfft, dass dem die Nackenhaare zu Berge stehen.
Letzte Aktualisierung: 25.05.2014 - 12.10 Uhr Dieser Text enthält 9875 Zeichen.