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Verdammt und zugenäht | Mai 2014

Verschlossen
von Eva Fischer

Die blechernen Rollläden vor den weiß gekalkten Häusern hatten das Schlaraffenland ausgelöscht und die engen Gassen leergefegt. Keine Frauenhände mehr, die bunte Tücher an sich schmiegten, keine kitschigen Souvenirs, von begeisterten Kinderhänden betatscht, keine nach Rosenwasser duftenden kleinen Törtchen, keine eisgekühlten Getränke für schwitzende Touristen.
Die Mittagshitze hatte das Leben in einen Stand-by-Modus versetzt.

Sie fühlte, wie ihre Füße anschwollen, die Ballerinas zum Gefängnis wurden. Wie lange irrte sie nun schon durch dieses Labyrinth von Gassen, ohne einen Ausgang zu finden? Alles sah hier gleich aus wie die Tauben, die nach vergessenen Krümeln pickten. Sie merkte sich den blauen Balkon mit der Bougainvillea, doch wenige Schritte weiter erinnerte sie sich nicht mehr an die Farbe des Balkons. Azurblau? Kobaltblau? In immer wiederkehrenden Abständen reckten sich die Blütendolden über eine Brüstung. Eine üppiger als die andere. Wer mochte sie unterscheiden?
Sie überlegte, ob sie gegen die Rollläden trommeln sollte, ob das Geräusch die Menschen aus ihrem Schlaf hochschreckte.
Sie schaute sich um nach einem Markierungsstein, auf dem sie kurz ausruhen konnte.

Und da geschah es. Völlig unerwartet, noch nicht einmal mehr erhofft. Die engen Mauern öffneten sich und gaben den Blick frei auf einen Platz.
Er war eher klein, zerbröselt zwischen den durch Fensterläden verschlossenen Häuserfronten, doch er bot vorerst alles, was sie brauchte. Einen kleinen Brunnen in der Mitte, eine grün gestrichene Bank, einen Gummibaum, der Schatten spendete.

Sie formte ihre Hände, um Wasser zu schöpfen. Nachdem sie den ersten Durst gelöscht hatte, spritzte sie übermütig das kostbare Nass gegen ihre erhitzten Schläfen. Erst dann humpelte sie zur Bank. Das Ziel vor Augen schwanden ihre Kräfte in der Geschwindigkeit einer Sanduhr, wo die letzten Körner einen Endspurt einlegen.
Sie zog die geschwollenen Füße aus den staubigen Schuhen und wusste gleichzeitig, dass sie nun für alle Zeiten barfuß bleiben musste. Nie wieder würden die Füße ihr den Gefallen tun, sich in dieses Schuhwerk zu zwängen.
Sie widerstand mit Mühe der Versuchung, sich auf der harten Bank auszustrecken und auf den makellosen blauen Himmel zu starren, denn sie fürchtete ein kritisches unsichtbares Auge zwischen den Sprossen der Fensterläden. Wie sah das aus? Sie war keine Sophia Loren mehr. In den Augen der anderen war sie eine komische Alte, die das Sprechen verlernt hatte.
Nie hatte sie es für möglich gehalten, dass dies gerade ihr passiern würde.

Als junges Mädchen redete sie ununterbrochen mit ihrer Freundin. Die Worte schienen endlos wie ein Ozean. Ihre Mutter wunderte sich. Habt ihr euch noch nicht in der Schule ausgequatscht? Müsst ihr euch schon wieder treffen? Ja, sie mussten. Zum Ärger ihrer Lehrer mussten sie sich auch Briefchen während des Unterrichts schicken, weil Worte, die nicht gesagt werden durften, aufs Papier drängten .
Was hatten sie sich zu sagen gehabt? Sie hatte es vergessen, aber die Erinnerung daran war paradiesisch.

Zu ihren Füßen turtelte ein weißer Täuberich um die Gunst einer grauen, schlanken Täubin. Er plusterte sich auf, hob den Kopf und senkte ihn, gurrte tänzelnd um sie herum.
Die Täubin betrachtete den Verehrer interessiert. Dann trippelte sie auf ihn zu und schnäbelte mit ihm.

Fasziniert beobachtete sie das Liebeswerben. Nein, so viel Initiative wie die Täubin hatte sie früher nicht aufgebracht
Doch auch sie hatte geheiratet. Vor einer langen Ewigkeit.
„Worte zerstören, wo sie nicht hingehören“.
Beim Liebesspiel blieb man stumm. Küssen oder Sprechen, da muss man sich schon entscheiden.
Und später? Da war die Sprache mehr funktional.
Liebling, was soll ich kochen?
Liebling, was machen wir am Wochenende?
Liebling, wie war dein Büroalltag?
Die Worte flossen wie ein stetiger Strom, mal mit Hochwasser, mal mit Tiefstand.
Wann waren sie versiegt?

War es während der Krankheit ihres Mannes? Was gibt es groß zu sagen, wenn das Ende feststeht? Sie hätte vielleicht mit ihm über seine Ängste reden wollen, aber er wollte nicht.
„Worte zerstören, wo sie nicht hingehören“, erinnerte sie sich und sponn sich ein in einen schützenden Kokon, kapselte sich von ihrer Umwelt ab. Wer interessierte sich schon für Krankheitsgeschichten, noch dazu ohne Happy-End? Anfangs legte sich das Schweigen bleiern auf ihr Gemüt, doch mit der Zeit gewöhnte sie sich, fühlte sich sicher in der inneren Emigration. Es war ihr, als habe jemand ihren Mund zugenäht, als sei sie für immer zum Schweigen verdammt.

Ein Kind fuhr mit seinem Roller über den Platz. Das bedeutete wohl, dass die Siesta bald vorbei war, und sie hatte den Ausweg noch immer nicht gefunden, lediglich eine kleine Verschnaufpause war ihr gewährt worden. Wie sollte sie diesem Irrgarten barfuß entkommen?

Seit fünf Jahren war sie Witwe und seitdem fuhr sie immer wieder in dieses Land, dessen Sprache sie nicht beherrschte. Hier fiel es nicht auf, dass sie stumm geworden war. Hier ging sie unsichtbar durch die Gassen.

Das Kind beschleunigte seine Fahrt, umkreiste den Brunnen, näherte sich vorsichtig der Bank, um sich gleich wieder mit festen Tritten gegen den Boden zu entfernen.
Sie schaute dem Kind hinterher. Es trug ein rosa Kleidchen. Die fast schwarzen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Goldene Ohrringe prangten auf den zierlichen Ohrläppchen.
Sie lächelte dem Mädchen zu, hoffte bei jeder neuen Runde, es möge ihr Lächeln erwidern.
Da stoppte das Kind abrupt vor ihr. Große neugierige Augen musterten sie unverhohlen. Das Mädchen öffnete den Mund und entblößte zwei Zahnlücken.
„Tara!“, rief eine männliche Stimme.
Die Frau wandte sich enttäuscht ab. Nach einem ihr unverständlichen Wortwechsel zwischen den beiden, kam der Vater auf sie zu.
„Que tal, Senora? Tiene dolor de pies? Puedo ayudarle?“
Eine Flut von Worten brach über sie hinein wie warmer Sommerregen. Sie schaute dem Mann, der ihr Sohn hätte sein können, in die dunklen Augen und verstand, dass er sich um sie sorgte, ihr helfen wollte.
Auf einmal überkam sie das unbändige Verlangen, mit ihm zu kommunizieren, mehr von ihm und seiner Familie zu erfahren, das Kind in die Arme zu nehmen.
„Ich kann leider kein Spanisch“, sagte sie. „Aber ich werde es lernen.“
Es waren die ersten Worte seit langem. Der Fremde lachte sie erfreut an.

Letzte Aktualisierung: 08.05.2014 - 09.14 Uhr
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