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Verdammt und zugenäht | Mai 2014

Nachtigall, ick hör dir synapsen
von Jochen Ruscheweyh

Der Bus hält. Irgendwie scheint es nicht weiter zu gehen. Und das am Tag, an dem ich meinen Test hab. Super.
Die anderen starren einfach weiter blöde vor sich hin. Der Rentner neben mir bequemt sich noch nicht mal, mich durchzulassen, macht allerdings auch keinen Ärger, als ich ihm auf den Fuß latsche. Selbst schuld, der Idiot.
Es gibt nur einen Weg zum Testgebäude: direkt über den Berg. Das ... ich weiß es einfach. Also drücke ich die Haltewunschtaste und steige aus, als sich die Türen zischend öffnen.

Wenn der Berg nicht so verdammt steil wäre! Ich muss beinahe krabbeln. Meine Hände versinken in Laub und Moos wie in einem zu weichen Kopfkissen. Ich komme mir vor, als würde ich in der Eiger-Nordwand hängen, nur dass kein Schnee fällt. Plötzlich zieht es mich herunter, ich falle mit dem Rücken zuerst ins Bodenlose.
Instinktiv kneife ich die Augen zu, als ob das etwas ändern würde. Es zieht in der Magengrube, wie wenn man in einem Fahrstuhl nach unten fährt. Der rettende Gedanke: Wenn ich mich vom Boden abdrücke, kurz bevor er aufprallt, werde ich nicht zerquetscht.

Ich stehe wieder da, wo ich losgegangen bin. Meine Euphorie, dem Tod den Stinkefinger gezeigt zu haben, hält nur kurz vor, weil ich plötzlich so dermaßen dringend auf die Toilette muss, dass ich glaube, ich muss platzen. Nach Hause, zu meinen Eltern, zu meinen DVDs und meiner Playstation ... aber wie? Ich weiß es nicht. Aber ich könnte zu meiner Tante. Im Prinzip bin ich schon fast da, und ich kann auch hintenherum über den Berg zum Test aufsteigen. Warum habe ich das eigentlich nicht gleich gemacht? Keine Ahnung.

In der Wohnung meiner Tante ist alles so wie immer. Klar, warum sollte es auch anders sein? Ich frage mich, warum ich mir andauernd diese dösigen Fragen stelle, dann wieder Sachen weiß, als hätte sie mir jemand aus einem Netzwerk auf meine Hirnfestplatte hinübergeschoben.

Es tut gut, laufen zu lassen. Eine einfache mathematische Gleichung: Den Druck, den ich jetzt rauslasse, habe ich nachher nicht beim Test.
Mein gutes Gefühl schlägt um, als mein Cousin und meine Cousine quängeln, dass sie nicht ausschlafen können, wenn ich die Spülung ziehe. Wer zur Hölle hat die Wand zwischen WC und ihrem Kinderzimmer weggebrochen? So ein Schwachsinn! Ich könnte irgendwas irgendwogegen knallen! Und meine Tante kann mich auch mal! Das kann sie auch nicht mit ihrem panisch gedeckten Frühstückstisch wiedergutmachen.
Das Einzige, was wirklich wichtig ist, ist mein Test. Sollen die ihren ScheiĂź doch selber fressen!
„Willst du dich nicht wenigstens verabschieden?“, ruft mir meine Tante durch das klinisch sauber riechende Treppenhaus hinterher.
‚Was denkst du wohl?’, denke ich, verkneif mir aber, das zu sagen.

„Zum Testgebäude? Wir haben keine Zeit, dir das zu zeigen, aber frag doch mal die Ghost-Schlampen!“ Ein überhebliches Grinsen liegt auf dem Gesicht des Typen mir gegenüber, als er auf eine Ansammlung von Mädchen und Jungs zeigt, die mit offenstehenden Mündern und glasigen Augen wie Zombies im Kreis laufen.
„Was ist mit denen?“, frage ich, obwohl ich eigentlich mehr Lust hätte, ihm eine reinzuhauen.
Er zuckt mit den Schultern: „Man sollte sich eben nicht weigern, den Test zu machen ...“

Ich weiß nicht wie, und alles wird irgendwie noch mysteriöser, wie Zeitraffer, und mein Hals fühlt sich an, als hätte man mich gestopft wie eine von diesen französischen Gänsen, aber ich bin tatsächlich im Testgebäude, auch wenn ich nicht weiß, wie ich reingekommen bin. Das Zimmer, in dem ich sitze, macht mich nervös, weil es mit den zwei Türen links und rechts wie ein Durchgangsraum aussieht, wo Leute an einem vorbeilatschen, ohne einen zu beachten.

Vor mir steht ein All in One-Rechner. Wieder so ein Reflex: Ich umklammere die weiĂźe Maus auf dem Tisch; vom Design und der Ergonomie her Apple, auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann, schon mal etwas Vergleichbares gesehen zu haben.

Ich weiß, kurz bevor ich in den Bus gestiegen bin, habe ich noch zu jemandem gesagt, dass ich mir abgewöhnt habe, Namensschilder von Krankenschwestern zu lesen, ich hab nur keinen Plan mehr, warum. Aber es muss einen Grund gegeben haben. Auf jeden Fall fällt mir das wahrscheinlich deswegen ein, weil grade eine reinkommt. Und dazu noch eine ganz billige Fälschung: „Hey“, spreche ich sie an, „ich kenn dich, du bist gar keine richtige Krankenschwester, du stehst doch sonst bei Rossmann an der Kasse!“
Mit demselben cool dämlichen Blick mit dem sie mir bisher - und da bin ich mir vollkommen sicher - Wechselgeld und den Bon auf den Ladentisch geknallt hat, antwortet sie: „Du kannst den Test machen oder du kannst ihn abbrechen und reden, dann hol ich dir eine Therapeutin.“
„Das kannst du vergessen, ich hab keinen Bock mehr auf ...“ Wieder so ein Automatismus. Ich hab keine Ahnung, warum. „Ich will den Test!“, korrigiere ich mich. „Und das ganze hier“, schiebe ich hinterher, „kommt mir sowieso vor wie ein total verdrehter Psychotraum und du guckst grad wie ’ne Nanny aus den Fünfzigern.“
„Aha, das hier ist also nur ein Traum? Und warum wachst du Super-Leuchte dann nicht auf, jetzt, wo du es weißt?“
„Keine Ahnung“, blaffe ich sie an, „vielleicht irgendein verschachtelter Doppeltraum.“
Im selben Moment hat sie mir so fix wie Roter Blitz eine Wimper ausgerissen, und mir bleibt das eklige Gefühl, als mein gedehntes Lid wieder an meinen Augapfel zurückfletscht. „Ey, spinnst du?“
„Wenn das ein Traum ist, dann tut es doch normalerweise nicht weh. Soll ich nochmal?“
„Probier und warte auf das Echo!“
„Na also“, meint sie, zieht die Maus samt Kabel ab und verschwindet damit.
Auf dem Monitor erscheint eine Sanduhr und eine Meldung: Um Berechnungen durchzuführen oder den Recherche-Modus zu starten, schließen Sie das kabelgebundene Eingabegerät an die vorgesehene Buchse an.
„Ja und wie, wenn die Pisskuh die Maus mitgenommen hat?“
Sie steckt noch einmal ihrem Kopf zur Tür hinein: „Lass dir halt was einfallen!“

Ich denke zuerst, das vor mir auf dem Tisch ist ein Grafiktablett, aber nein, das wäre ja zu einfach. Dieser Test ist an Absurdität nicht zu toppen, weil ich nämlich nur einen pieseligen Kugelschreiber und eine DIN A4 Glasplatte zur Verfügung habe. Ich muss jeden Buchstaben, jede Zahl jeden Strich drei oder vier Mal nachziehen, weil die bescheuerte Tinte nicht fließt. Ich bin kurz davor, die Glasplatte auf die Tischkante zu hauen, aber als ich sie hochnehme, erscheint eine neue Meldung: Das Anheben der Glasplatte beendet den Test. Möchten Sie den Test wirklich beenden?
Wieder die Sanduhr. Ein vollkommen sinnloser Kampf gegen die Uhr, die Zeit, gegen Alles.

Das kabelgebundene Eingabegerät wird zur Benutzung vorbereitet, sagt der Bildschirm, als meine Intim-Feindin im Schwesternkittel die Maus wieder anschließt. Am Liebsten würde ich sie jetzt in den Schwitzkasten nehmen oder ihr den Arm verdrehen; irgendwas, damit sie merkt, wie sich das anfühlt, in so einer Zwangslage.
Stattdessen beiße ich so fest mit den Zähnen aufeinander, als wenn ich einen Holzkeil dazwischen hätte und fange dann an zu rechnen.

Als sie mir die Maus zum zweiten Mal wegnimmt, bin ich kurz vorm Heulen.
Ich versuche es im Kopf, obwohl er dröhnt und Plus, Minus, Mal und Geteilt wie Cola-Kohlensäure gegen meine Hirndecke sprudeln und die Fast-Ergebnisse wie Bläschen zerplatzen.
Nach eineinhalb Stunden zittern meine Hände und ich kriege schlecht Luft, aber trotzdem habe ich einige Zahlenkolonnen und Rechenwege auf meiner Glasscheibe.
„Fertig?“, höre ich ihre Stimme hinter mir. Ich reiße einen Arm in die Luft. „Eine Minute noch, höchstens anderthalb.“
„Tut mir leid, aber du hast überzogen.“
Ich fass es nicht: Sie sprĂĽht Sidolin auf einen Lappen und wischt einmal quer ĂĽber meine Glasplatte!


„Wie geht’s dir?“, fragt meine Folterknechtin.
„Ach, leck mich, du bist keine Schwester, du bist eine popelige kleine Drogerieverkäuferin“, zische ich ihr entgegen, als sie sich neben mich auf die Bank setzt, „hau ab!“
„Am Anfang ist es besonders schwer hier, aber du kommst drüber weg.“
„Ich hab gesagt, du sollst abhauen, mann!“
Sie ist erstmal still, fängt aber nach einer Weile wieder an: „Ich bin übrigens Jessie.“
„Du bist einfach nur armselig, egal wie du heißt!“, sage ich.
„Hör zu, mir macht das auch keinen Spaß, aber das ist nunmal mein Job hier! Ich hab mir das nicht ausgesucht.“
„Ja, ey, toller Job! Leute fertigmachen. Richtig klasse!“
„Hast du was, wo du wohnen kannst?“


Ich weiß nicht, worüber ich nachgedacht habe oder wie viel Zeit vergangen ist, auf jeden Fall frage ich irgendwann: „Wieso wohnen?“
„Du hast das System noch nicht verstanden, oder?“
„Welches System?“
„In deinem Traum bist du Bus gefahren. Als du aus diesem Bus gestiegen bist, hast du deinen Traum verlassen.“
Ich schreie jetzt fast: „Und wie komme ich wieder zurück in diesen beschissenen Traum?“
„Das ist nicht vorgesehen. Du bist jetzt hier.“
Ich versuche mich zu erinnern. Es geht nicht. Irgendeine dunkle Brühe Nichtwissen schwappt meinem Schädel hin- und her. „Was ist, wenn ich den Test bestehe?“
„Niemand kann den Test bestehen, das ist das System. Und niemand hier wird je wieder aufwachen.“
Meine Finger krallen sich in das Holz der Bank. „Du willst mir jetzt nicht sagen, dass ...“
Sie macht: „Pscht!“ und ich zucke zusammen, als sie mit ihrer Hand durch meine Haare fährt. „Siehst du, wie schön kräftig und gesund sie jetzt sind?“
Als hätte mir jemand auf den Hinterkopf gehauen, wird mir klar, dass das was mir vor ein paar Wochen noch alles bedeutet hätte, nun unwichtig ist. Egal. Wertlos. „Warum bist du nicht mehr bei Rossmann, Jessie?“
„Mir macht das hier alles genauso viel Angst wie dir, aber zusammen können wir es bestimmt besser aushalten, du kannst bei mir wohnen“, höre ich sie flüstern.
„Das klingt wie eine Mischung aus romantisch und abgezockt“, sage ich mit geschlossenen Augen.
„Soviel Romantik, wie ich mir bewahrt hab, nachdem man meine Reste aus einer Tonne zerquetschtem Blech herausgeschnitten hat.“

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Letzte Aktualisierung: 06.05.2014 - 09.06 Uhr
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