Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
Vater â Mutter â Kind und Wind von Gerhard Fritsch
Ein Kind, etwa neun bis zehn Jahre alt, stand zusammen mit seinen Eltern am Strand und starrte hinaus auf das weite Meer, von dem kein Ende abzusehen war. Ein starker Wind trieb die Wellen gegen das Ufer und peitschte das Wasser gegen die Klippen. Vater, Mutter und Kind hielten mit den HĂ€nden Hut, Kopftuch und MĂŒtze fest, damit sie nicht weggeweht werden konnten. Dem Kind missfiel der starke Wind und es fragte seinen Vater: âHey, woher kommt der blöde Wind?â Da antwortete der Vater: âDer Wind kommt von Westen.â Das Kind Ă€rgerte sich und sagte: âSo ein Quatsch, das sehâ ich selber, Mann. Mama, weiĂt du, wo der Wind herkommt?â
âDen Wind, den schickt der liebe Gott, mein Kleinerâ, antwortete die Mutter. âDas muss sein, damit es bei uns auch regnen kann, sonst gĂ€be es kein GemĂŒse und keine Blumen.â
Jetzt bekam das Kind einen hochroten, zornigen Kopf, und es schupste seine Mutter mit den HĂ€nden und schlug mit dem Bein nach seinem Vater. âHey weissu, ihr seid voll blöd, könnt immer nur Bla-Bla-Bla. Ich will jetzt endlich auch ein Smartphone, da steht das bestimmt drin, woher der Wind kommt. Hey oder?â
Beide Eltern versuchten das Kind zu beruhigen. Sie bedienten sich aber unterschiedlicher Argumente und kamen darĂŒber selbst in Streit miteinander. Das Kind fing an mit Sand und Steinen zu werfen und schmiss seine MĂŒtze ins Meer. Da tauchte plötzlich ein groĂer Fisch aus dem Wasser und schrie das Kind an: âJetzt reicht es aber, du frecher Rotzlöffel du. Niemand von euch weiĂ, woher der Wind kommt, und so ein ScheiĂ-Smartphone auch nicht.â
Vater, Mutter und Kind rissen ihre MĂ€uler auf und brachten keinen Ton mehr hervor. UnglĂ€ubig schauten sie auf den Fisch, der sich nun etwas beruhigt hatte und begann, sie ĂŒber die Herkunft des Windes aufzuklĂ€ren:
âAm Anfang war nur das Unaussprechliche, fĂŒr das es keinen Namen gibt. Es war weder Nichts noch Nicht-Nichts. Garnichts eben. Doch dann keimte Unzufriedenheit auf und das Sein des Unaussprechlichen zerriss in zwei GemĂŒter, die weder zusammenbleiben noch sich trennen konnten. Blieben sie zusammen, gerieten sie in Streit. Und wenn sie auseinandergingen, wollten sie sich wieder vereinigen. Mit gigantischer Wucht schlugen sie aufeinander ein. Sie zerstörten sich mit gewaltigem Getöse immer wieder gegenseitig und entstanden gleichzeitig erneut aus ihren TrĂŒmmern. Das Unaussprechliche fiel in sich zusammen und machte der Unendlichkeit Platz. Das Universum mit seiner unendlichen Anzahl von Sternen war geboren. Ausbrechen und Einfangen, Leben und Sterben beherrschte von da an die Welt. Und ohne dass sie es wussten, hatten sie einen Sohn bekommen, der seitdem darauf achtet, dass die beiden sich weder zu nahe kommen noch sich zu weit voneinander entfernen. Hier auf der Erde heiĂt er Wind. Er treibt den Regen von der Sonne weg, verleiht ihm aber so viel Kraft, dass er an anderer Stelle die Sonne wieder verdeckt. Sonne â Wind â Regen, kapiert? Sonne â Mutter â Hoch, Wind â das himmlische Kind, wie man auch sagt, Regen â Vater â Tief. Ewiger Kreislauf, alles klar? Das wird solange dauern, bis das ganze Schauspiel auf eine höhere Ebene verlegt wird. So ist das â und nicht anders.â
Nach einer kurzen Pause fĂŒgte der Fisch noch hinzu: âUnd jetzt verpisst Euch hier, sonst klatschâ ich euch noch eine.â
Vater, Mutter und Kind machten immer noch ein verwundertes, nahezu dĂŒmmliches Gesicht, worauf dem Fisch wieder etwas Grimm in den Kopf stieg. Weil er aber kein Verlangen nach einer weiteren Eskalation verspĂŒrte, drehte er ab und verschwand wieder im Meer. Zuvor aber kotzte er ihnen noch ein paar hochgewĂŒrgte halbverdaute Fischreste vor die FĂŒĂe, woran zu erkennen war, dass sie es mit einem Raubfisch zu tun gehabt hatten.
Ein Hirsch, der zufĂ€llig vorbeikam und die Begegnung beobachtet hatte, schmunzelte, wohl etwas von Schadenfreude getrieben, und meinte, Vater, Mutter und Kind sollten froh sein, so glimpflich davongekommen zu sein. Der liebe nĂ€mlich den Wind und wĂŒrde gar nicht mögen, wenn jemand etwas gegen ihn hat. Und tatsĂ€chlich sahen sie jetzt weiter drauĂen im Meer den Fisch auf dem RĂŒcken liegend und lĂ€chelnd einer WindmĂŒhle zuwinkend, die auf einer der vorgelagerten Inseln stand und krĂ€ftig ihre FlĂŒgel drehte.
Ja, der Fisch trĂ€umte tatsĂ€chlich davon, eines Tages ebenfalls vom Wind durch die LĂŒfte getragen zu werden.
Letzte Aktualisierung: 05.06.2014 - 19.31 Uhr Dieser Text enthält 4416 Zeichen.