Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Mutter, Vater, Wind | Juni 2014
Das Haus am Meer
von Ingo Pietsch

Sturmböen zogen und zerrten an Eriks Kleidung. Sand brannte in seinen Augen.
Die Sonne war schon längst hinter dem Horizont verschwunden, aber der Mond tauchte die weiße Gischt der Wellen in ein unheimliches Licht. Den dunklen Wolken, die den Mond umrahmten, nach zu urteilen, würde noch ein Gewitter heraufziehen.
Erik hatte eigentlich gehofft, noch vor dem Dunkel werden das nächste Küstenörtchen auf der Karte zu erreichen, aber das Unwetter hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er lag nun schon zwei Tage hinter seinem Plan, die Nordseeküste zu Fuß zu bereisen und die Sommerferien näherten sich dem Ende.
Bald würde sich noch Regen zum Wind dazugesellen.
Es gab nichts außer Dünen und verkrüppelter Büsche.
Wie schnell das Wetter doch umgeschlagen war.
Erik stellte sich schon darauf ein, sich zwischen den Sandhügeln zu verschanzen und die Nacht dort zu verbringen. Er würde sein Zelt als einfaches Dach benutzen.
Er blickte zum Meer und sah entfernt das Licht eines Leuchtturms.
Die ersten Tropfen fielen.
Eriks wandte sich zu den Dünen und stutzte: Ein windschiefes Holzhaus stand plötzlich dort. Er hätte schwören könne, dass es gerade noch nicht dagewesen war.
Das Knarren der salzzerfressenen Balken war durch den Sturm zu hören.
Erik kämpfte sich gegen den Wind den Weg zum Haus hin. Er hoffte einen sicheren Unterschlupf für die Nacht gefunden zu haben.
Erik fand die Tür und zerrte daran. Nach einigen Versuchen gab sie quietschend nach und er schloss sie gleich wieder hinter sich.
Er atmete erst ein paar Mal durch und kramte dann seine Taschenlampe aus dem Rucksack. Um ihn herum drangen unheilvolle Geräusche des altersschwachen Holzes an seine Ohren. Aber hier drinnen fühlte er sich sicherer als draußen zwischen den Dünen.
Er hatte eigentlich gehofft, noch vor dem Dunkel werden das nächste Küstenörtchen auf der Karte zu erreichen, aber das Unwetter hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er lag nun schon zwei Tage hinter seinem Plan, die Nordseeküste zu Fuß zu bereisen und die Sommerferien näherten sich dem Ende. Er hätte seine Eltern anrufen können, aber er wollte es aus eigener Kraft schaffen.
In dem Wohnraum befanden sich ein Tisch, drei Stühle, einer davon ein Schaukelstuhl, eine Kochnische, ein Kamin und weiter hinten ein Bett und eine mottenzerfressene Hängematte.
Alles wirkte, als wäre es schon hunderte Jahre alt.
Erik setzte sich vorsichtig auf den nächsten Stuhl, der sogleich unter dem Gewicht zusammenbrach.
Erik blieb lieber stehen und stellte seinen Rucksack auf den Tisch, der robuster war. Er kramte sein Sturmfeuerzeug heraus, warf die Überreste des Stuhls in den Kamin und zündete sie an. Explosionsartig ging das Holz in Flammen auf. Lange würde es nicht brennen, aber den Raum wenigstens aufheizen.
Der Wind pfiff durch die Ritzen der Wandbretter und ein Donnern gesellte sich dazu.
Erik zerlegte noch den anderen Stuhl und verfeuerte ihn ebenfalls.
Als es für ihn warm genug war, rollte er seine Isomatte aus, legte den Schlafsack darauf und kuschelte sich ein. Er schrieb noch schnell eine Nachricht mit seinem Smartphone an seine Eltern, sah sich das Wetter für die nächsten Tage an und war kurz darauf schon eingeschlafen.

Ein schabendes Geräusch weckte Erik. Er schreckte hoch und sah sich um: Eine alte Frau saß im Schaukelstuhl und wippte hin her. Das Feuer im Kamin brannte heller als zuvor, die Stühle standen wieder am Tisch und waren nicht mehr so verwittert, auf dem gusseisernen Herd köchelte ein Topf und das ganze Haus wirkte aufgeräumt und sauber.
Die Frau strickte.
Erik bekam keinen Ton heraus.
Der Sturm draußen war noch heftiger als zuvor. Harter Regen prasselte auf das Dach.
Die Tür wurde aufstoßen. Ein Mann mit Vollbart und regennasser Kleidung trat ein und schlug die Tür wieder zu. Wasser lief von seinem Hut auf den schweren Mantel und bildete einen kleinen See zu seinen Füßen.
Der Mann trat an den Kamin und wärmte seine Hände. Er ignorierte Erik, als wäre er gar nicht da.
„Frau“, sagte der Mann mit tiefer Stimme. „Ich werde aufs Meer fahren. Wir haben nichts mehr zu beißen.“
„Vater, das ist zu gefährlich!“, rief eine Jungenstimme von der Hängematte her. Ein kleiner Junge war heruntergesprungen. Er rannte zu seinem Vater und umarmte ihn.
„Von dem bisschen Gemüse werden wir nicht lange leben können. Es muss sein.“
Die Frau nickte nur und der Junge begann zu weinen.
Der Mann bückte sich und drückte seinen Jungen. Ohne ein weiteres Wort ging er wieder hinaus in den Sturm.
Erik wollte aufstehen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Ein Schaudern lief ihm den Rücken herunter.
Der Junge ging zu seiner Mutter. „Wird er wiederkommen?“
Die Mutter sah ihn an: „Nein, sein Boot wird kentern und er wird jämmerlich ertrinken.“
Wie selbstverständlich nickte der Junge.
„Ich werde Holz aus dem Schuppen holen gehen.“ Gedankenverloren schlenderte er an dem kleiner werdenden Feuer vorbei und ging ebenfalls nach draußen.
Die Mutter schaukelte weiter. „Pass auf dich auf!“, rief sie ihm hinterher.
Einige Zeit verging. Ein mehrfaches Heulen übertönte den Sturm.
Erik war immer noch starr.
Die Mutter murmelte gleichgültig vor sich hin: „Von Wölfen zerfleischt. Der arme Junge.“
Sie legte ihr Strickzeug beiseite, nahm ein Stück Seil aus einem Regal und kletterte auf den Tisch. Sie warf ein Ende über einen Dachbalken. Sie knotete alles zu einem Strick zusammen, legte sich die Schlinge um den Hals und sprang.
Erik wurde bei dem Anblick ohnmächtig und sank auf seinen Schlafplatz zurück.

Kreischende Möwen weckten Erik aus dem traumlosen Schlaf. Es war wieder finster in dem Holzhaus, das Feuer heruntergebrannt. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe über den Tisch – aber da war nichts. Schnell packte er seine Sachen zusammen und verließ die Hütte.
Draußen schien schon die Sonne und tauchte das Meer in ein Funkeln.
Die Wellen hatten eine Menge Strandgut angespült: Plastikflaschen, Kisten, einen Sonnenschirm, Badelatschen und ein altes kleines Paddelboot.
Erik wurde an der Schulter gepackt.
„Junge, alles in Ordnung mit dir?“, fragte eine freundliche Männerstimme.
Erik drehte sich erschrocken um.
Ein Mitarbeiter der Küstenwache stand neben ihm. Sein Fahrzeug war ein Stück weiter geparkt.
„Wo hast du bei diesem Sturm Schutz gefunden?“, fragte er.
Erik zeigte auf die Stelle, wo das Haus gestanden hatte. Nur ein paar verwitterte abgebrochene Balken ragten aus dem Boden.
„Dort“, stammelte Erik.
„Komm mit“, sagte der Mann. „Ich bringe dich zur Rettungswache und dann rufen wir deine Eltern an. Dann erzähle ich dir die Geschichte der Fischerhütte, denn du bist nicht der erste, der darin übernachtet hat.“

Letzte Aktualisierung: 24.06.2014 - 21.34 Uhr
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