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Mutter, Vater, Wind | Juni 2014

. . . und schauen uns liebevoll an
von Anne Zeisig

Du fährst mit deinen Fingern meine Wirbelsäule entlang bis zum Steiß, ich spüre dich in mir, fühle dein Stakkato und fliege.
So habe ich es am liebsten, wenn du mich von hinten bumst.
Dann sehe ich nicht dein verzerrtes Gesicht und du nicht meines.
Mal ehrlich: Wie vom Schmerz gezeichnete Mienen sehen nicht attraktiv aus. Aber hier geht es nicht um Schmerzen. Hier geht es um das Schönste.
Es handelt sich um Fortpflanzung.
Die Pille habe ich vor zwei Jahren abgesetzt.
Und?
Bin ich schwanger geworden innerhalb dieser Zeit?
Nein!
Deine Hände fahren längst nach dem Fruchtbarkeitskalender meine Wirbelsäule entlang.
Ermittelt nach meiner Temperaturkurve.
Und heute ist wieder so ein fruchtbarer Tag.
Das macht mich irgendwie geil: Ein neuer Mensch könnte entstehen.
Könnte.
Entstanden ist er bisher nicht.
Medizinisch gesehen sind wir kerngesund.
Statistisch betrachtet sind wir . . . ??
“Kochen Sie Ihrem Mann mal ein schönes Abendessen, oder fahren Sie doch unbeschwert in den Urlaub”, hatte der Reproduktionsmediziner uns geraten.
Ein Wunder, dass mein Mann und ich immer noch Lust auf Sex haben.
Geplanter Sex.
Die Fortpflanzungsgene sorgen offenbar für den nötigen Kick.
Wir wollen doch nur mit einem Kind auf den Spielplatz gehen und Sandburgen bauen.
Wollen mit ihm eine Schultüte basteln und Pflaster auf die Knie kleben. Es trösten.
Ich will es Stillen und will vorher die Erfahrung machen, wie es in mir wächst und mit aller Wucht aus mir raus will.
Wir wollen es erleben! Dieses Einmaligkeit der Geburt unseres Kindes!
“Wir wollen unser Kind selber produzieren!”
WIR WOLLEN!
Empfohlen wurde uns die Insemination.
Da fährt dir dein Mann NICHT mit den Fingern die Wirbel entlang bis zum Steiß, weil du geil davon wirst.
Da machst du die Beine breit auf dem Gynäkologenstuhl und der Doktor insemiert dir den Samen deines Mannes, den dein Liebster in einer Kabine per Masturbation gewonnen hat, weil auf den Fotos in den Pin-Up-Heftchen nicht dein Arsch, sondern der Hintern und die Titten von irgendwelchen Pornodarstellerinnen abgebildet sind.
Egal.
Der Zweck heiligt die Mittel.
Michael hält meine Hand, als der Arzt seinen Samen mit der Kanüle in meine Gebärmutter spritzt.
Und nun heißt es, vierzehn lange Tage zu warten.
Kind oder wieder viel Wind um Nichts?
Freude oder Enttäuschung.

* * *

“Hohoooo! Schick deine Frau doch mal bei mir vorbei! Dann klappt das auch! Haste etwa Luft im Sack?”
Arbeitskollegen können grausam sein.
Welch ein Glück, dass wir nicht zart besaitet sind.
Die Kolaschke von drüben wirft Kinder wie die Kaninchen.
Sozialhilfeempfänger.
Bildungsfern.
Fünf Kids auf der Schule für Lernbehinderte.
Eines in der Logopädie.
Zwei in der Feinmotorik.
Und das Kind in der Orthopädie hat das geringere Übel. Nur Einlagen gegen Spreiz-Senk-Fuß. Der Rest wird sich zeigen.

* * *

ICH WILL AUCH EIN KIND MIT SENKFÜßEN !!!!!!!
ES MUSS NICHT UNSERE GENE HABEN !!!!!
Wie hoch ist der Anteil des Ererbten und wie hoch der des Geprägten aufgrund des Elternhauses?
“Sind wir noch liebende Eheleute, oder sind wir Fortpflanzungsmaschinen?”
Wir entscheiden uns für die Liebe und durchlaufen das Prozedere des Jugendamtes.

* * *

Marvin!
Zehn Wochen jung.
Zerbrechlich.
Er riecht gut.

Marvin!
Wir haben den Namen für ihn nicht ausgesucht.
Das ist so unwichtig wie das mir entgangene Geburtserlebnis.
Wir sind der Frau so dankbar, in deren Bauch er gewachsen ist, die ihm das Leben geschenkt hat, anstatt ihn abzutreiben und besuchen ihr Grab.
Legen Rosen nieder.
Und wir danken Marvins Vater, dass er den Kleinen mit den himmelblauen Augen zur Adoption freigegeben hat. Er wird jedes Jahr an Marvins Geburtstag ein Foto erhalten.

Es ist windig.
Wir schließen das Verdeck des Kinderwagens und schauen uns liebevoll an.
WIR SIND ELTERN!


©Anne Z. Zweite Fassung.

Letzte Aktualisierung: 15.06.2014 - 20.07 Uhr
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