Mutter, Vater, Wind | Juni 2014
| Vater – Mutter – Kind und Wind | von Gerhard Fritsch
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Ein Kind, etwa neun bis zehn Jahre alt, stand zusammen mit seinen Eltern am Strand und starrte hinaus auf das weite Meer, von dem kein Ende abzusehen war. Ein starker Wind trieb die Wellen gegen das Ufer und peitschte das Wasser gegen die Klippen. Vater, Mutter und Kind hielten mit den Händen Hut, Kopftuch und Mütze fest, damit sie nicht weggeweht werden konnten. Dem Kind missfiel der starke Wind und es fragte seinen Vater: „Hey, woher kommt der blöde Wind?“ Da antwortete der Vater: „Der Wind kommt von Westen.“ Das Kind ärgerte sich und sagte: „So ein Quatsch, das seh‘ ich selber, Mann. Mama, weißt du, wo der Wind herkommt?“
„Den Wind, den schickt der liebe Gott, mein Kleiner“, antwortete die Mutter. „Das muss sein, damit es bei uns auch regnen kann, sonst gäbe es kein Gemüse und keine Blumen.“
Jetzt bekam das Kind einen hochroten, zornigen Kopf, und es schupste seine Mutter mit den Händen und schlug mit dem Bein nach seinem Vater. „Hey weissu, ihr seid voll blöd, könnt immer nur Bla-Bla-Bla. Ich will jetzt endlich auch ein Smartphone, da steht das bestimmt drin, woher der Wind kommt. Hey oder?“
Beide Eltern versuchten das Kind zu beruhigen. Sie bedienten sich aber unterschiedlicher Argumente und kamen darüber selbst in Streit miteinander. Das Kind fing an mit Sand und Steinen zu werfen und schmiss seine Mütze ins Meer. Da tauchte plötzlich ein großer Fisch aus dem Wasser und schrie das Kind an: „Jetzt reicht es aber, du frecher Rotzlöffel du. Niemand von euch weiß, woher der Wind kommt, und so ein Scheiß-Smartphone auch nicht.“
Vater, Mutter und Kind rissen ihre Mäuler auf und brachten keinen Ton mehr hervor. Ungläubig schauten sie auf den Fisch, der sich nun etwas beruhigt hatte und begann, sie über die Herkunft des Windes aufzuklären:
„Am Anfang war nur das Unaussprechliche, für das es keinen Namen gibt. Es war weder Nichts noch Nicht-Nichts. Garnichts eben. Doch dann keimte Unzufriedenheit auf und das Sein des Unaussprechlichen zerriss in zwei Gemüter, die weder zusammenbleiben noch sich trennen konnten. Blieben sie zusammen, gerieten sie in Streit. Und wenn sie auseinandergingen, wollten sie sich wieder vereinigen. Mit gigantischer Wucht schlugen sie aufeinander ein. Sie zerstörten sich mit gewaltigem Getöse immer wieder gegenseitig und entstanden gleichzeitig erneut aus ihren Trümmern. Das Unaussprechliche fiel in sich zusammen und machte der Unendlichkeit Platz. Das Universum mit seiner unendlichen Anzahl von Sternen war geboren. Ausbrechen und Einfangen, Leben und Sterben beherrschte von da an die Welt. Und ohne dass sie es wussten, hatten sie einen Sohn bekommen, der seitdem darauf achtet, dass die beiden sich weder zu nahe kommen noch sich zu weit voneinander entfernen. Hier auf der Erde heißt er Wind. Er treibt den Regen von der Sonne weg, verleiht ihm aber so viel Kraft, dass er an anderer Stelle die Sonne wieder verdeckt. Sonne – Wind – Regen, kapiert? Sonne – Mutter – Hoch, Wind – das himmlische Kind, wie man auch sagt, Regen – Vater – Tief. Ewiger Kreislauf, alles klar? Das wird solange dauern, bis das ganze Schauspiel auf eine höhere Ebene verlegt wird. So ist das – und nicht anders.“
Nach einer kurzen Pause fügte der Fisch noch hinzu: „Und jetzt verpisst Euch hier, sonst klatsch‘ ich euch noch eine.“
Vater, Mutter und Kind machten immer noch ein verwundertes, nahezu dümmliches Gesicht, worauf dem Fisch wieder etwas Grimm in den Kopf stieg. Weil er aber kein Verlangen nach einer weiteren Eskalation verspürte, drehte er ab und verschwand wieder im Meer. Zuvor aber kotzte er ihnen noch ein paar hochgewürgte halbverdaute Fischreste vor die Füße, woran zu erkennen war, dass sie es mit einem Raubfisch zu tun gehabt hatten.
Ein Hirsch, der zufällig vorbeikam und die Begegnung beobachtet hatte, schmunzelte, wohl etwas von Schadenfreude getrieben, und meinte, Vater, Mutter und Kind sollten froh sein, so glimpflich davongekommen zu sein. Der liebe nämlich den Wind und würde gar nicht mögen, wenn jemand etwas gegen ihn hat. Und tatsächlich sahen sie jetzt weiter draußen im Meer den Fisch auf dem Rücken liegend und lächelnd einer Windmühle zuwinkend, die auf einer der vorgelagerten Inseln stand und kräftig ihre Flügel drehte.
Ja, der Fisch träumte tatsächlich davon, eines Tages ebenfalls vom Wind durch die Lüfte getragen zu werden. |
Letzte Aktualisierung: 05.06.2014 - 19.31 Uhr Dieser Text enthält 4416 Zeichen. www.schreib-lust.de |