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Mutter, Vater, Wind | Juni 2014

How to kill another author
von Jochen Ruscheweyh

„Entschuldigen Sie, aber ich kann nicht anders!“ Ich drückte die Wohnungstür auf, ihn zur Seite und mich an ihm vorbei in seine Wohnung. „Ihr neuer Roman ist ... einfach unglaublich gut!“
Er strich sich die Haare glatt und schaute kurz in den Flur, als wolle er sich vergewissern, dass niemand mehr folgte. Mit einer Ruhe, die ich ganz sicher nicht aufbrächte, wenn jemand Unbekanntes in meine Wohnung eindringen würde, schloss er die Tür und deutete mir, in den Raum vor uns zu gehen, von dem ich annahm, dass es sich um sein Wohnzimmer handeln musste.

Mein Problem ist, dass ich zu viel und zu schnell spreche, besonders, wenn ich aufgeregt bin. Das weiß ich. Und im Wohnzimmer von Steffen Heinrich, dem für mich brilliantesten Schriftsteller dieses Jahrzehnts zu sitzen, auf seiner Couch, mit meinen Schuhen seinen Teppich zu berühren, musste unweigerlich dazu führen, dass ich mich ... um Kopf und Kragen redete.
Er nahm sich eine Zigarette aus einer Box, die die Form des Turms von Pisa hatte und auf dem Glastisch vor uns stand, und fragte: „Wie haben Sie mich ausfindig gemacht?“
„Sie wissen schon, die alte Geschichte, ein Freund eines Freundes kennt jemanden, der zufällig beim Einwohnermeldeamt arbeitet.“
„Aha“, antwortet er und klopfte die Zigarette mit der Tabakseite auf die Tischplatte.
Ihm musste aufgefallen sein, dass ich meinen Blick nicht von der Zigaretten-Box nehmen konnte. „Oh, ich vergaß“, bemerkte er, „kann ich Ihnen eine anbieten?“
„Nein, danke ich rauche nicht. Es ist nur ... diese Box, der Turm von Pisa, war das Ihre Vorlage für das Mordwerkzeug in Auf Knien?“
Der durchdringende Geruch eines Benzinfeuerzeugs machte sich im Raum breit. Mit einer gekonnten Bewegung, so als schüttele er sich sein Handgelenk aus, schloss er das Zippo - es musste sich um ein Zippo handeln, eine andere Marke passte einfach nicht zu Steffen Heinrich - und sog den Rauch seiner gerade entzündeten Zigarette ein. „In der Tat. In meiner Rohfassung war es allerdings dieser Trachtenbär dort.“
Heinrich wies mich auf einen außergewöhnlich hässlichen und kreischend bunt bemalten Keramikteddy in den Landesfarben von Ungarn hin. Vor meinem geistigen Auge zerfloss die emotionale Mordszene aus Auf Knien zu einem Klumpen seelenlosen Gemetzels, auf dem ein ungarischer Trachtenbär thronte. Ich versuchte, die Vorstellung abzuschütteln, aber es gelang mir nicht. Ich würde Auf Knien kein viertes Mal lesen, soviel stand fest.
„Es kommt nicht oft vor, dass Leser mich besuchen. Ich will ehrlich sein: Ich stehe dieser Art von Beziehung auch recht skeptisch gegenüber.“
„Wieso?“, fragte ich.
„Schauen Sie, Autor und Leser sollten nicht zuviel voneinander wissen. Das ist schlecht für die Dynamik, für die Phantasie, für einfach alles.“
Ich spürte, dass plötzlich etwas zwischen uns stand, das in der Lage war, unsere Unterhaltung zum Kippen zu bringen.
„Aber Sie verdienen doch ihr Geld mit uns Lesern.“
„Deswegen muss ich noch lange keine Beziehung zu Ihnen haben. Ein Portland-Zement Hersteller kann auch guten Zement herstellen, ohne jemals einen Polier auf der Baustelle besucht zu haben. Also, seien Sie sich bewusst, dass Sie gerade in Galaxien eindringen ...“
„In denen noch kein Leser zuvor gewesen ist? Sie machen doch sicher auch diese Meet&Greet Sachen“, hörte ich vorsichtig nach.
Er streifte seine Asche ab und schüttelte den Kopf. „Nein, da verweigere ich mich generell.“
„Aber“, insistierte ich behutsam weiter, „Sie müssen doch zumindest so etwas wie Zuneigung für Ihre Leser empfinden.“
Er lachte auf. Für mich schwang ein bitterer Unterton darin mit: „Ich empfinde eher Mitleid mit ihnen.“
„Mitleid?“, stieß ich hervor. „Mit mir?“
Er strich sich zum wiederholten Male die Haare glatt.
Es lag nicht direkt an dieser überflüssigen und scheinbar obsessiven Geste, sondern wohl an der Summe der Dinge, die in den letzten Minuten quer gelaufen waren, dass ich in jenem Moment spürte, wie meine Bewunderung in Abneigung umschlug.
„Ich kann da auch deutlicher werden“, sagte er und beugte sich vor: „Sie und diese anderen kleinen Idioten glauben, sie hätten Vater, Mutter, Wind verstanden. Einen Scheiß haben Sie!“
„Das können Sie wohl kaum beurteilen, bevor Sie meine Interpretation kennen!“, gab ich mit genausoviel Aggressivität zurück, wie ich aus seiner Wortwahl heraushörte.
„Nur zu“, stachelte er mich an, „kommen Sie, geben Sie’s mir, oh ja, lassen Sie Ihre präpubertäre Provinz-Germanistik raushängen!“
Obwohl ich schon seit Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte, griff ich nach einer Zigarette aus der dummen Pisa-Box, die mir Auf Knien ruiniert hatte. Drehte sie zwischen den Fingern und klopfte den Filter so auf die Tischplatte, dass sich der Tabak in der Hülse senken konnte. Dann sagte ich: „Nun, in erster Linie haben Sie einen sportlichen Entwicklungsroman geschrieben, in dem der Protagonist Parker alle Stufen seines persönlichen Trail of Independence durchläuft. Und ich meine, es liegt auf der Hand, dass das Verlassen der Bucht die Abnabelung von der Mutterbrust symbolisiert.“
„Weiter!“, forderte er mich auf, „oder ist das alles, was Sie zu bieten haben?“
„Haben Sie Feuer?“, unterbrach ich ihn.
In seinem Blick lag jetzt etwas, das ich irgendwo zwischen Frustration und Überheblichkeit einordnete. Anstatt das Zippo zu entzünden und mir die Flamme hinzuhalten, platzierte er es demonstrativ aufrecht stehend wie einen Talismann in einer Gruppentherapie in der Mitte des Tisches.
Ich überlegte einen Moment, bevor ich sagte: „Ich kann das nicht mit dem Ding. Helfen Sie mir?“
In dem Moment, als er mir das entfachte Feuer hinhielt, ergriff ich sein Handgelenk und die Gelegenheit, meinen Trumpf auszuspielen: „Stencil Parker, der Surfer, das sind Sie, Sie selbst! Oder besser gesagt: Sie würden gerne so sein wie er. Das ist mir jetzt klar geworden.“
„Klammern Sie sich nicht so an meinem Handgelenk fest.“
„Nein, nein“, fuhr ich fort. „Lenken Sie nicht ab, ich könnte wetten, wenn ich mich mal gründlich hier in ihrem Penthouse umschaue, finde ich Surfer-Devotionalien, sowas wie diese Long Beach/California Nummerschilder.“
Er machte sich los. „Das ist doch vollkommener Schwachsinn.“
Ich stand auf, ging auf die Tür zu, von der ich annahm, dass sie ins Schlafzimmer führte und drückte die Klinke runter.
In diesem Moment rief er: „Stopp!“
Ich ließ die Tür einen Spalt geöffnet und blickte zu ihm hinüber.
„Vielleicht haben Sie recht.“
„Womit?“
„Vielleicht steckt in Vater, Mutter, Wind doch mehr von Steffen Heinrich, als ich mir zugestehen will.“
„Okay ...“
„Ich will damit sagen ...“
Ich widerstand der Versuchung, in das Zimmer zu schauen und schloss die Tür wieder.
„Setzen Sie sich bitte wieder, es macht mich nervös, wenn Sie stehen.“
„Okay ...“, wiederholte ich.
Er hielt mir noch einmal das brennende Feuerzeug hin. Der erste Zug seit fünf Jahren wieder tat gut, auch wenn ich husten musste.
„Wissen Sie, was gerade passiert?“, stellte er fest, „Sie entmystifizieren mich.“
Ich zog erneut und ließ den Rauch langsam zwischen meinen Zähnen hindurch entweichen, etwas von dem ich als Teenager immer angenommen hatte, es sähe cool aus, bis ich es später einmal vor dem Spiegel probierte und festgestellte, dass ich dabei wie ein entrückter Crackraucher wirkte. Warum ich es jetzt tat? Ich wusste es nicht, aber es fühlte sich gut an.
„Also nicht als Mensch“, fuhr er fort, „sondern als Autor.“
„Warum sind Sie so?“, fuhr ich ihn an, „Ich meine, diese ganze Überheblichkeit und das exponierte Gehabe.“
Er zuckte mit den Schultern: „Wahrscheinlich Angst?“
„Wovor?“, fragte ich und nahm mir eine neue Zigarette aus der Pisa-Box, die ich an der noch glühenden anlötete.
„Als Sie durch diese Tür dort kamen“- er nickte in Richtung Flur -, wusste ich, dass es aus ist. Dass Sie mich als das entlarven würden, was ich wirklich bin, ein armseliger Haufen Scheiße, der Buchstaben zu sinnlosen Satzketten zusammenpatchworked."
„Ich korrigiere Sie nur ungern, aber patchworken impliziert bereits ein Zusammen.“
„Da sehen Sie’s, ich bring’s einfach nicht mehr!“ Er schlug mit der flachen Hand auf die Couch. Etwas Staub stob nach oben. „Und sauber machen müsste ich auch mal wieder.“
Ich nickte.
Nach einer Weile sagte ich: „Ich weiß nicht, ob Sie das nicht etwas zu drastisch sehen, zu sehr schwarz und weiß, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie haben doch tolle Sachen geschrieben.“
Er holte einen kleinen roten Handsauger hervor und rollte das dazugehörige Kabel aus. „Nein, nein, machen Sie sich keine Gedanken, Sie haben mir einen Gefallen getan, einen ziemlich großen sogar. Wenn ich Sie früher getroffen hätte, ich glaube, ich hätte Vater, Mutter Wind nicht mehr geschrieben.“
„Lassen Sie mich das machen!“, sagte ich und nahm ihm den Sauger aus der Hand.

„Ich weiß noch nicht, wie ich mit alldem umgehen soll“, bemerkte ich, nachdem ich Couch und Boden gesaugt hatte, „es ist, als hätte ich Sie getötet, nein, falsch nicht Sie, vielmehr Sie in Ihrer Funktion als mein Lieblingsautor.“
„Ich würde sagen“, entgegnete er, „Sie haben mir einen ohnmachtsähnlichen Knock out verpasst.“
„Ohnmachtsähnlich ist redundant“, warf ich ein, „weil Knock Out ...“
Er überging meinen Einwand und sagte: „Wenn Sie jetzt meine Ex-Frau wären, könnte ich Ihre beste Freundin bumsen oder Pornofotos von Ihnen ins Netz stellen, aber so? Können Sie auch noch unter der Fensterbank saugen, da komme ich immer so schlecht dran.“
„Kein Problem.“ Ich schaltete den Sauger wieder ein.
„Woran haben Sie gerade gearbeitet?“, rief ich gegen das Geräusch des Handsaugers an. „Also, ich meine bevor ...“
„ ... Sie mich getötet haben?“, brüllte er zu mir herüber.
„Wenn Sie es so ausdrücken wollen, ja.“, brüllte ich zurück und schaltete den Sauger aus.
„Für immer Donnerstag!“, schrie er in die Stille, die durch mein abruptes Herunterfahren des Saugers entstanden war. Und dann wieder in Zimmerlautstärke: „Es hätte ein guter Roman werden können.“
Ich nickte. „Schade, dass Sie ihn nun nicht schreiben.“
„Ja“, sagte er, „schade.“

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Letzte Aktualisierung: 06.06.2014 - 08.22 Uhr
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