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Mutter, Vater, Wind | Juni 2014

Im Himmel des Ozeans
von Sylvia Schöningh-Taylor

Johanna hatte in einer windgeschützten Ecke der Hotelanlage eine verrostete Hollywoodschaukel gefunden und sich erschöpft darauf plumpsen lassen. Das kalte Gestänge klemmte ihr schmerzhaft in die Oberschenkel, aber das war jetzt egal. Sie setzte ihre Converse-beschuhten Füße auf den regennassen Boden und stieß sich ab. Die Schaukel seufzte leise in ihren Scharnieren. Das Vor- und Zurück-Schwingen ihres Körpers hatte die Wirkung, die vor langer Zeit schon ihre Kinderschaukel im väterlichen Holzgarten gehabt hatte. Die Beunruhigungen des Lebens fielen dann von ihr ab. Alles Schwere löste sich in den Schaukelbewegungen des Körpers auf und zurück blieb die Ahnung von der ungeheuren Leichtigkeit des Seins. Sie kramte in ihrer Tasche nach der Zigarettenpackung und dem einzigen Feuerzeug, das den Flug überstanden hatte. Als sie in ihrem Hotelzimmer das Gepäck aufs Bett geworfen und geöffnet hatte, fand sie einen Brief der Lufthansa vor, wonach ihr lila Koffer mit den fröhlichen Aufklebern den Verdacht erregt hatte, dass er entweder Waffen, Sprengstoff, Gefahrgut oder sonstige verbotene Gegenstände enthielte. Entsprechend seien ihm vier Feuerzeuge entnommen und der Vernichtung zugeführt worden. Die Urne war, dem Himmel sei Dank, noch da, eingehüllt in ihr Blümchen-Nachthemd. Der blaue Rauch der ersten Zigarette zusammen mit der Schaukelbewegung ließen Johanna endlich den Blick freigeben auf das, wofür sie hierhergekommen war.

Das Meer. Immer schon hatte es gerufen, komm her zu mir, hier findest du deine Ruh. Was war es bloß, was sie plötzlich durchatmen ließ, egal wie aufgewühlt sie zuvor gewesen war? Dem Meer musstest du nicht beweisen, wer du warst. Es kümmerte sich nicht um deine kleine menschliche Geschichte, es ließ dich einfach nur SEIN. War es seine Unendlichkeit, welche die Zeit zerrinnen ließ und dich zugleich in eine ewige Gegenwart bettete? War es sein Mysterium, das sich mühelos mit dem Geheimnis des eigenen Lebens verband? Oder war es das ungleichmäßige Rauschen der Wellen, das dich vielleicht an den Gesang des Blutkreislaufes im Mutterleib erinnerte, damals, als dein Lebenssaft noch mit dem der Mutter verbunden war. Und begann nicht das eigene Leben im Ozean des Fruchtwassers, schwerelos, himmlisch geborgen, Teil eines großen Wunders, das Leben heißt? Sie konnte sich an jede Einzelheit ihrer ersten Begegnung mit dem Meer erinnern, damals in ihrer schrecklichschönen Kindheit. Da war sie sieben Jahre alt gewesen und die Mutter hatte sich gerade durchgerungen, sie von der Pflegemutter zurückzuholen. Johanna konnte sich noch genau an die Fahrt an die Nordsee erinnern, den Geruch des Käfers, vollgepackt mit Strandsachen, des Vaters lustige Pudelmütze, das salzigen Aroma des Windes auf der Überfahrt zur Insel, die Schreie der Möwen, das Sirren ihrer weißen Flügel um den Kutter, die Dünen und dann endlich: Der erste Blick auf das Meer, das ihr, dem kleinen Mädchen aus dem hessischen Mittelgebirge, wie ein Wunder vorkam. Da hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, angenommen zu sein von etwas, das größer war als sie.

Auch der Vater und die Mutter schienen von Wind und Wellen besänftigt. Sie saßen friedlich nebeneinander im Strandkorb. Es gab Butterbrote, die sandig zwischen den Zähnen knirschten und nach Seewind schmeckten. Sie bauten eine Strandburg, die Johanna mit kleinen Muscheln schmückte, welche sie am Strand in ihrem kleinen Blecheimer gesammelt hatte. Keine sah wie die andere aus. Auch das Meer wechselte seine Farbe laufend. Wenn die Wolken tief hingen, war es grau und schwer. Es konnte auch flaschengrün glitzern und an Sonnentagen schließlich dunkelblau. Dann nahm der Vater sie bei der Hand und sie gingen den Wellen entgegen. Gemeinsam hüpften sie in die erste hinein, das Wasser spritze ihr ins Gesicht und in den Mund. Die zurückrollende Welle zog ihr den Sand unter den Füßen weg, so dass sie strauchelte. Aber der Vater hielt ihre Hand ganz fest. Weiter draußen brachte er ihr bei, wie man Toter Mann spielte. Sie legte sich mit ausgebreiteten Armen ins Wasser, und siehe da, das Meerwasser ließ sie zwischen Himmel und Erde schweben. Am Horizont zogen immer wieder Schiffe vorbei, die in ihrer Seele ein schmerzlich süßes Fernweh auslösten. Die großen Schiffsbäuche ließen fremde Seehäfen vor ihrem inneren Auge entstehen, exotische Basare, Harems und Kalifen mit Krummschwertern, Sindbad den Seefahrer, und seine wundersamen Abenteuer oder Odysseus und seine jahrelange Irrfahrt auf dem Mittelmeer. Der Wind zauste an ihrem feinen Haar, das Meerwasser ließ es fülliger werden, die Sonne bleichte es. Abends leckte sie sich das Salz von der Haut und schlief beseligt dem nächsten Meerestraum entgegen.

Eine Sehnsucht war in Johanna geboren. Sie war das Licht ihrer Jugendjahre, die von der Krankheit der Mutter überschattet waren. Der Vater war gegangen und die Mutter hatte sich in den Kokon ihrer Verlassenheit eingesponnen. Stumm, tränenlos lag sie im Dunkel des Migräne-Zimmers. Von dort spann sie bedürftige Fäden durch das Haus, die sich um Johannas Körper wickelten, so dass es darin ganz eng und schwer wurde. Sie fühlte sich an den Opferfäden der Mutter fremdgesteuert wie eine Marionette, die einen fremden Tanz vollführt, immer darauf bedacht, die Mutter dem dunklen Ort der Selbstaufgabe zu entreißen. Beinahe hätte sie sich selbst weggeworfen, wenn da nicht der Meertraum in ihrer Seele gewesen wäre. Inzwischen war ihre erotische Sehnsucht erwacht und drängte aus der Umklammerung. Johanna ging zum Studium nach Heidelberg. In der ersten Nacht schritt sie die paar Quadratmeter ihrer kleinen Studentenbude immer wieder ab und konnte ihr Glück kaum fassen, sie war endlich frei. Sie folgte ihrer Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit auch in der Liebe. Es gab ja schon den Himmel auf Erden, und zwar in jenen ozeanischen Gefühlen, die sich bei der erotischen Verschmelzung mit einem Mann einstellten. Sie war süchtig danach, denn inzwischen hatte sie auch die Verzweiflung jener frühen Jahre eingeholt, in denen die Mutter sie als kleines Mädchen verstoßen hatte. Nachts konnte sie nicht schlafen, weil sie eine alte Schuld bedrückte. Es lag wohl an ihr, dass sie die Mutter nicht ganzmachen konnte. War sie ein Gefahrgut? Vor den dunklen Fliehkräften in ihrem Innern konnte sie nur die orgiastische Entgrenzung in den Armen eines Liebhabers retten. Dann erhob sie sich aus dem Meer der Tränen wie Aphrodite, die Schaumgeborene. Botticellis Gemälde hatte sie auf einer Reise nach Florenz als Poster erstanden und es wanderte bei ihren vielen Ortswechseln immer mit im Gepäck.

Heiraten kam für Johanna nicht in Frage. Zu schmerzlich war ihr die Trennung der Eltern ins Herz gebrannt. Umso stärker war der Wunsch nach Kindern; ihnen zu geben, was sie nicht bekommen hatte. Lange Jahre genügte die liebevolle Verbindung zu ihren Schülern. Klassenfahrten aufs Land machten sie besonders glücklich. Dann hatte sie diese kleinen Menschen endlich mal ohne Lehrplan um sich und ihre eigenen kreativen Ideen sprudelten. Es gab Modeschauen auf einer Waldlichtung, geschmückt nur mit Naturgrün und Schminke. Nachtwanderungen, Lagerfeuer, ihre Gitarre und der Gesang unterm nächtlichen Sternenhimmel verzauberten sie und ihre Schutzbefohlenen. Dann aber begann eine Zeit, da sie sehnsüchtig in Kinderwagen spähte, um dort einen Blick auf ein süßes Babyschöpfchen zu erhaschen. Sollte ihr eigener Schoß unerfüllt bleiben, nur weil ihr eine feste Bindung an einen Mann immer wieder misslang? Sie wünschte sich nichts sehnlicher als einen Seelenpartner. Aber ihre intensiven Liebesbeziehungen scheiterten meist an der Leidenschaftlichkeit ihres Herzens, welche die Männer zwar faszinierte, aber auch immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen führte. Johanna rang dann um Ebenbürtigkeit mit ihrem Partner. Ihre geistsinnliche Unersättlichkeit schlug ihn am Ende doch in die Flucht. Von einer tränenreichen Abschiedsnacht mit einem Mann wurde sie schließlich schwanger.

Mit der Geburt ihres Sohnes Joshua war Johanna in der Erfüllung angekommen, nach der sie sich so lange gesehnt hatte. Die Mütterlichkeit lag ihr im Blut. Indem sie ihrem Kind die Welt zeigte, wurde der alte Zauber in ihr neu entfacht. Schon die Geburt hatte sie endgültig vom Wunder des Lebens überzeugt. Die Fähigkeit des Staunens ging auf ihren Sohn über. Mit anderen Familien mietete Johanna jeden Sommer ein Haus auf der Nordseeinsel. Joshua stürzte sich begeistert auf die Fauna der Wattlandschaft, schleppte allerhand Getier ins Haus, von dem er Zeichnungen anlegte, um es schließlich wieder dem Meer zu übergeben. Nach dem Abitur ging er zum Studium der Biologie nach Cambridge. Die Mutter starb. An Alzheimer erkrankt, war sie langsam dahingesiecht und Johanna fühlte sich schuldig am Verfall der Frau, der sie ihr Leben verdankte. Intuitiv begriff sie, dass der Mutter Demenz einem Leben unverarbeiteter Emotionen und zerbrochener Träume geschuldet war. Vom Leben enttäuscht, hatte sie schließlich die Kooperation mit ihm verweigert. Wenn wir das Leben nicht beim Schopf ergreifen, macht es mit uns, was es will, dachte Johanna. Und ihre Tränen fielen auf die Urne mit der Asche ihrer Mutter, die sie hier ans Mittelmeer mitgebracht hatte. Die Mutter hatte sich immer so sehr nach der südlichen Sonne gesehnt.

Johanna presste die Urne fest an ihr Herz und stieg vorsichtig die regennassen Felsen hinab zur kobaltblauen Bucht. Keine Menschenseele war zu sehen. Das Meer schwieg windstill. Sie streifte ihre Schuhe ab und watete hinein. Sie öffnete die Urne und übergab die Asche ihrer Mutter dem Himmel des Ozeans. Dabei flüsterte sie leise wie ein Gebet die Worte ihres Herzensdichters:
Alles ist aus dem Wasser entsprungen!
Alles wird durch das Wasser erhalten!
Ozean, gönn uns dein ewiges Walten.

Letzte Aktualisierung: 12.06.2014 - 13.43 Uhr
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