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Mutter, Vater, Wind | Juni 2014

Mercury Dead
von Klaus Freise

Mercury Spring, Dezember 1880
Die Silver Mining Corp. hatte für den Abbau von Silbererz Quecksilber als Bindemittel verwendet. Dreißig Kilo auf eine Tonne Erz. Das Quecksilber verunreinigte das Trinkwasser beim Verhütten. Mit fatalen Folgen.
Um genug Arbeiter für die Mine zu bekommen, wurden großzügig Kredite vergeben. Der Mining Corb. gehörten die Läden für Lebensmittel und Ausrüstung und die Bank. Sobald die neuen Mitarbeiter unterschrieben hatten, schufteten die Männer für die Rückzahlungen bis zu ihrem Tod. Kaum einer wurde vierzig Jahre alt. Ihre Familien litten unter Hunger, Krankheiten und anderen Entbehrungen.
Im Nachbarort „Gerome“ kam es im Frühjahr 1879 zu einem grausigen Zwischenfall, bei dem siebzig Menschen starben. Unter den Opfern waren viele Frauen und Kinder. Es hieß, eine Gruppe hungriger Wölfe sei aus den Bergen gekommen und in das Dorf eingefallen, während die Männer in der Mine waren. Man hielt an dieser Erklärung fest.
Bis zum Winter 1880.
***
Die kleine Alice Winston kam in meine Kirche gestürzt und rief völlig außer Atem:
„Sie kommen!“
Ich bückte mich und fing das erschöpfte Kind auf. Sie wischte sich Tränen aus dem Gesicht und schniefte:
„Pater Malone, aus der Mine kommt ein fürchterliches Geheul. Ich habe solche Angst.“
„Du brauchst keine Angst zu haben. Hilfst du mir die Glocke zu läuten?“ Sofort verschwand ihr ängstlicher Blick. Gemeinsam warnten wir die übrigen Dorfbewohner. Oben vom Glockenturm sah ich, wie sich die Frauen mit den Kindern durch den Schnee zur Kirche kämpften. Der Wind war stärker geworden. Ich hatte die beiden vordersten Bankreihen zerschlagen und das Holz neben zwei gusseisernen Öfen aufgestapelt. In vielen der kleinen Häuser gab es für die Familien kaum noch Holz. Außerdem legte ich selbstgebackenes Brot bereit. Trotzdem hatte ich das Gefühl, nicht gut genug vorbereitet zu sein. Seit über sechs Monaten kamen nur noch die Frauen und Kinder an den Sonntagen zu mir. Ihre Männer würden nur noch schlafen und benähmen sich fremd und abweisend, erklärten sie. Viele machten einen verwirrten Eindruck und wollten nur noch Fleisch zu den kärglichen Mahlzeiten. Ich sprach mit Dr. Inglewood von der Company, aber er wiegelte ab. Die Männer seien nur erschöpft, gleichzeitig riet er aber, nicht mehr das Wasser aus den Brunnen zu trinken, sondern Schnee aufzutauen. Dann war er fort, angeblich um Medikamente zu beschaffen. Seit Wochen waren wir durch Schneestürme von der Außenwelt abgeschnitten. Selbst die Gespanne waren nutzlos geworden. Es gab keine Pferde mehr.
Ich fragte die letzten Frauen, die sich durch die Tür drängten:
„Ist noch jemand draußen?“
„Ja, Betsy Miller. Sie will Ihre kranke Mutter nicht allein lassen.“
„Gut, ich werde die beiden holen.“ Doch die Frauen flehten mich an, nicht zu gehen.
„Bitte, Pater, bleiben Sie. Das schaffen Sie nicht mehr.“ Eine von ihnen deutete auf die andere Seite des Dorfes. Dort sah ich durch das Schneegestöber kleine schwarze Punkte, die sich langsam von der Mine zum Dorf bewegten. Resigniert verschloss ich die Tür und stemmte zwei Eisenbahnbohlen vor den Eingang. Ich verteilte Brot und Tee. Die Stimmung war sehr gedrückt. Draußen tobte jetzt der Sturm. Er heulte und fauchte um die Kirche, wie ein hungriges Tier. Um die Kinder zu beruhigen sangen wir Kirchenlieder. Die Öfen spendeten langsam Wärme. Ich legte gerade Holz nach, als ich ein Kratzen und Pochen hörte. Die kleine Alice flitzte zur Tür und rief: „Papa, bist du das?“
Ihre Mutter sprang auf und griff nach dem Kind. „Nein, Alice. Das ist nicht Vater, es ist nur der Wind.“ Ich deutete den Frauen an, sich näher zum Altar zu setzen. Langsam ging ich zur Tür. Durch die Ritzen konnte ich einen Schatten sehen. Ich legte ein Ohr an das Holz und fragte: „Wer ist da?“ Eine krächzende Stimme schien zu flüstern:
„Der Wind, mein Kind, drum öffne geschwind. Lass mich ein, ich will bei dir sein.“
Ich starrte durch einen kleinen Spalt und schrak zurück. Vor der Tür standen zerlumpte Gestalten mit blutunterlaufenen Augen und schwarzen Zahnstümpfen. Sie hatten kaum noch Haare auf den Köpfen. Eingefallene Gesichter, wie Totenschädel. Das Zahnfleisch blau verfärbt. Aber am schlimmsten war der wahnsinnige Blick. Die Augen zuckten unstet hin und her, schienen in weite Ferne zu blicken.
Wieder kratzten verknöcherte Finger über die Tür. „Fleisch, gebt uns Fleisch.“
Ich trat zurück und sah hinter mir die Frauen, mit bleichen Gesichtern. Auch sie hatten die Stimmen gehört. Sie hielten den Kindern die Ohren zu und einige schluchzten. Mit zitternder Stimme sagte ich: „Lasst uns singen. Lauter als der Wind.“
Und so sangen wir. Lauter und immer lauter, während draußen der Wind heulte, an der Tür rüttelte und klopfte. Die ganze Nacht hindurch. Die längste unseres Lebens.
Ich erwachte durch die ersten Sonnenstrahlen, die wie leuchtende Finger durch die Fenster drangen. Der Wind war fort, so als sei er nie dagewesen. Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass die Tür frei war, öffnete ich vorsichtig. Unter den Schneemassen zeichneten sich Körper ab. Aus denen ragten verkrampft aufgereckte dürre Hände. Die Fingernägel abgesplittert. Gesichter, deren mit Schnee gefüllte Münder einen letzten Schrei ausstießen.
Der Wind hatte viele Opfer gefordert.

Noch heute steht ein verwittertes Schild neben der verfallenden Kirche von Silver Spring.
„Höret nicht auf die Stimmen der Verlorenen, damit ihr nicht anheimfallt ihren falschen Reden.“

Version 2

Letzte Aktualisierung: 25.06.2014 - 20.17 Uhr
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