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Mutter, Vater, Wind | Juni 2014

Südwest im Herzen
von Martina Lange

"Trude! Was tust du an Vaters Lade?"
Der Schreck ließ das Mädchen erstarren. Abrupt drehte es sich zu seiner zwei Jahre jüngeren Schwester um und barg die Hände mit dem verräterischen Gegenstand auf dem Rücken.
"Gar nichts!" Trotzig reckte sie Lotte das Kinn entgegen.
"Wenn Mutter das sieht, kriegst du wieder Backpfeifen. Dann wirst du schon sehen!", erklärte Lotte altklug.
"Aber nur, wenn du wieder petzt."
"Tu ich gar nicht! Lügnerin!"
"Petze!"
Die Mutter erschien in der Tür. Mit einem Blick erfasste sie die Situation, schob Lotte beiseite und stand mit zwei Schritten vor Trude. Ängstlich senkte das Mädchen den Kopf und presste den Rücken gegen die Kommode. Die Mutter streckte die Hand aus und ihr Zeigefinger verlangte energisch das verborgene Etwas.
"Her damit! Augenblicklich!"
Trudes Schultern rutschten tief in ihr zu großes Kleid, aber sie regte sich nicht. Ungeduldig fasste die Mutter zu, zerrte ihr den rechten Arm hinter dem Rücken hervor und griff nach der verblichenen Postkarte, holte mit der Linken aus und versetzte ihrer Tochter eine schallende Ohrfeige.
"So, hinaus mit dir an die Arbeit. Und wage es nicht noch einmal an diese Lade zu gehen."
Trude drängte sich heulend an der Mutter vorbei und stieß mit ihrem Vater zusammen.
"Na, na, wer wird denn ... ", tröstend legte er seiner Tochter die Hand auf den Scheitel.
"Helene?" Der auffordernde, beinah anklagende Ton, mit dem er eine Erklärung verlangte, fruchtete bei seiner Frau nicht.
Schneidend erwiderte sie nur: "Sie war wieder an deiner Lade, Friedrich! Immer sucht sie nach dieser unseligen Karte. Wirf sie endlich fort! Ich weiß gar nicht, warum du dieses vergilbte Ding immer noch aufbewahrst. Die Zeit ist lange vorbei. Zum Glück! Setz Trude nicht weiterhin Flausen in den Kopf. Afrika! Das war von Anfang an eine Schnapsidee von dir!" Voller Verachtung warf sie die Karte auf das eheliche Bett und rauschte aus dem Zimmer. Ihre Eifersucht konnte Friedrich beinah riechen. Helene teilte nicht gern.

Friedrich Panko seufzte tief, lehnte sich an den Türrahmen und drückte seine Tochter an sich.
Trudes Tränen versiegten allmählich, nur ihre Wange brannte noch, aber dieser Schmerz würde auch bald nachlassen.
"Vater?", schniefte sie.
"Hm?"
"Du wirst sie doch nicht fortwerfen? Und das Ei, von dem großen Vogel auch nicht, oder?"
"Das Straußen-Ei?" Erstaunt erforschte der Vater das nasse Gesichtchen, bevor er seiner Tochter antwortete: "Nein, werde ich nicht."
"Wirst du mir auch wieder davon erzählen?"
Lächelnd strich er ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr und nickte.
"Nur jetzt lieber nicht, später am Abend, bevor ich zur Schicht gehe."
Zufrieden über ihre geheime Absprache löste sich Trude vom Vater und eilte durch den engen Flur in den Hinterhof hinaus. Die Tür ließ sie offen.

Ein Luftzug fegte herein und die Karte vom Bett. Friedrich bückte sich und klaubte sie vom Boden auf. Sorgsam wischte er ein paar Staubflocken von der Rückseite. Es schien, als entfernte er damit auch die Jahre, die seitdem vergangen waren. Er erinnerte sich, wie er sie damals an seine Helene schrieb, in Windhuk, als es noch einen Kaiser gab, und er drehte sie um...



Der Wind erhob sich mit der aufgehenden Sonne. Es war, als ritte die Hitze des neuen Tages aus den Tiefen der Namib bis zum Atlantik. Eine weitere Attacke des immerwährenden Kampfes gegen die kühle Feuchtigkeit, die der Benguelastrom aus der Antarktis mitbrachte. Weit vor der Küste verhüllte sich der Horizont mit schwerem Dunst. Eine Barriere, die zur Gefahr für alle ankommenden Schiffe wurde.
Diejenigen, die sie sicher passierten, erreichten Swakopmund, den lebendigen Hafen am Rand der Skelettküste.

Friedrich schritt die staubige Straße entlang, den Blick auf den schäumenden Atlantik gerichtet. Zwei Tage hatte er gebraucht, um von Windhuk in den Bergen zurück an die Küste zu gelangen. Die Bahnstrecke war vom wandernden Sand verweht worden und musste immer wieder von den Herero freigefegt werden. Friedrich glaubte fest, dass die Namib einer der unruhigsten Orte dieser Welt war. Der Sand war immer in Bewegung. Wie das Wasser des Oranje, dem Vater der Namib. Mit seinen gewaltigen Fluten brachte er den Sand und die darin enthaltenen Schätze heran und türmte ihn an der Küste auf. Alles strebte dem Ozean zu, als hätten die Elemente nichts Eiligeres zu tun, als dieses Land zu verlassen.

Friedrich stellte sich allem entgegen, dem Sand und Staub, dem ewigen Wind, der Trockenheit und Hitze zum Einen. Den wilden, grünen Bergen mit ihrer fremdartigen Vegetation zum Anderen. Das Land hatte seine Seele erfasst. Seine Entscheidung stand fest, er würde bleiben, für immer.
In diesem Land hatte er gefunden, was er im Kaiserreich, der Heimat, nie zu erreichen gewagt hatte: Eigenes Land, ein gutes Auskommen und ein Leben unter einem hohen, weiten Himmel. Hier brauchte er nicht mehr einzufahren in feuchte Gruben, wo er das Tageslicht beinah nie zu Gesicht bekam und lange vor seiner Zeit sterben musste wie sein Vater. Bergleute wurden nicht alt. Starben sie nicht an der langsamen und schleichend voranschreitenden Versteinerung ihrer Lunge, so holte sie sich die Grube.

Nach dem Tod seines Vaters hatte er die sich ihm bietende Gelegenheit ergriffen und war ohne langes Zögern auf das Angebot der Otavi Minengesellschaft eingegangen. Die Aussicht auf gute Bezahlung und die Aufstiegsmöglichkeiten bedeuteten für ihn sehr viel mehr als der unsichere Erfolg, den ein eigener Schürfschein versprach.

Und er hatte Recht behalten, denn schon nach kurzer Zeit wurde das ganze Gebiet um Kolmannskuppe zur Diamantensperrzone erklärt. Große Syndikate und der Kaiser verdienten nun an den Funden und den Schürfern blieb, bei den hohen Kosten, kaum genug zum Leben.
Friedrich war mit seiner Weitsicht sehr zufrieden. Jeden Pfennig, den er verdiente, steckte er in sein Land, statt ihn in den Vergnügungsvierteln zu verschleudern. Sobald an diesem Morgen das Bankhaus seine Türen öffnete, würde er die letzte Rate begleichen, und damit gehörte die Farm in der Nähe von Windhuk endlich ihm. Sein Herz war leicht und der Himmel rückte noch ein Stückchen höher.
Endlich konnte Helene zu ihm kommen. Sie würden heiraten und gemeinsam hier in Deutsch-Südwestafrika ein ganz neues Leben anfangen.


Im Büro des Bankangestellten brummte der Deckenventilator. Dem rotgesichtigen Mann lief trotzdem der Schweiß in den steifen Kragen. Friedrich war schon vor einiger Zeit dazu übergegangen, statt seiner schwarzen Bergmannskluft leichtere, helle Baumwollkleidung zu tragen. Der eingezwängte Mann ihm gegenüber hätte an einem anderen Tag vielleicht sein Mitleid erregt, da er den preußischen Vorschriften folgen musste, heute jedoch hatte er nur noch Blicke für die Urkunden.
"Nun brauchen Sie nur noch hier und hier zu unterschreiben, dann sind Sie Landbesitzer. Mit Datum und vollem Namen, wenn ich bitten darf."
Sein Gegenüber lächelte, wenn auch gequält, und schob Friedrich die Papiere und den Federhalter hin.
"Sehr gern." Friedrich rutschte bis an den Kante seines Stuhles, tauchte die Feder ein und schrieb bedächtig und dem Ernst der Situation geschuldet in seiner schönsten Handschrift:

Swakopmund, Deutsch-Südwestafrika den 27. Juni 1914, Friedrich Panko ...

Letzte Aktualisierung: 22.06.2014 - 11.20 Uhr
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