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Verstrahlt | Juli 2014
Herr Sieger, der Idiot!
von Marcel Porta

Es ist mitten in der Nacht. Unerträglicher Durst hat mich aufgeweckt. Auf meinem Nachttisch muss eine Flasche Mineralwasser stehen, weil dort immer eine steht. Doch als ich mich auf die Seite drehe, um sie zu greifen, verheddere ich mich in einigen Plastikschläuchen und schlagartig kommen die Erinnerungen. Ich bin im Krankenhaus, auf der Intensivstation.
Noch bevor ich den Knopf drücken kann, der die Nachtschwester herbeiruft, steht sie in der Tür.
„Kann ich Ihnen helfen, Herr Sieger?“
„Ja, ich habe Durst.“
„Einen Moment, ich helfe Ihnen.“
Sie ist noch jung, vielleicht Mitte zwanzig. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen. Dabei hatte ich gedacht, mittlerweile alle Pflegepersonen zu kennen, die hier arbeiten. Hübsch sieht sie aus, soweit das trotz ihrer Schutzmaske zu beurteilen ist. Als sie mir die Schnabeltasse an den Mund hält, spüre ich ihren Busen an meinem Arm. Eine weiche und angenehme Berührung. Ob sie weiß, welche Empfindungen sie damit bei mir auslöst? Darf ein Sterbender denn noch sexuelle Gefühle haben?

„Herr Sieger, wir sind alle so stolz auf sie!“, sagt sie, als ich signalisiere, genug getrunken zu haben.
Sofort rutscht sie in meiner Sympathieskala etliche Etagen tiefer.
Ich kann es nicht mehr hören. Herr Sieger, der Held! Herr Sieger, der Lebensretter! Herr Sieger, der Idiot! Letzteres sagt niemand, aber alle denken es. Auch ich. Zumindest in meinen schlechten Stunden. Und in letzter Zeit gibt es immer mehr davon.
Ich würdige Schwester Nele keiner Antwort. Ihr Namensschild prangt direkt vor meinen Augen, als sie sich über mich beugt, um das Kopfkissen zurecht zu klopfen. Ihr Geruch übertönt den allgegenwärtigen Krankenhausmief und löst Erinnerungen aus. Gute Erinnerungen. An früher, als ich noch einen funktionierenden Körper hatte und eine Frau, mit der ich schlafen konnte. Jetzt habe ich nur noch einen Körper, dessen Bankrotterklärung bereits unterschrieben ist. Und meine Frau sehe ich nur noch mit nassen Augen. Sie weint für mich mit, denn meine Augen bleiben trocken.

„Ich werde Ihren Urinbeutel wechseln, Herr Sieger. Bin gleich wieder da.“
Das sind jetzt die Liebesdienste, die eine Frau mir noch erweisen kann. Ich könnte kotzen. Mein ganzes Leben war eine Aneinanderreihung von Fehlern, Pannen, Dummheiten. Warum musste ich das beste Abitur der ganzen Schule haben? Hätte ich nicht besser statt all der Schufterei mich täglich besoffen oder wäre hinter den Mitschülerinnen hergestiegen? Sicher nicht der erste Fehler, den ich begangen habe, aber ein ausschlaggebender. Denn anderenfalls hätte ich das Stipendium nicht bekommen und mir kein Studium leisten können. Bankangestellter! Ja, das wäre es gewesen. Und kein Studium der Kernphysik. Wäre auf jeden Fall gesünder gewesen.

„Haben Sie noch einen Wunsch“, fragt Nele und schaut mich mit ihren grünen Augen an. Eine Farbe, die mir schon immer gefallen hat. Ob sie mir einen runterholt, wenn ich sie darum bitte?
„Sie könnten mir …“, beginne ich den Satz, doch ich bringe es nicht übers Herz. Sie kann ja nichts dafür, dass ich hier im Sterben liege.
„Was?“, will sie wissen.
Wieder muss ich mich beherrschen, um nicht zu sagen: ihre Möpse zeigen.
„… etwas gegen meine kalten Füße bringen, sie fühlen sich an wie Eisklumpen.“
Ihre Hand auf meinen Füßen fühlt sich gut an. Warm ist die Berührung und löst das Gefühl der Nähe aus.
„Oh ja, sehr kalt, ich bringe Ihnen einen Wärmbeutel. Dauert nicht lange.“

Wieder verschwindet sie und überlässt mich meinen Gedanken, die sich im Kreis drehen. Um auszubrechen, repetiere ich die nächsten Fehlentscheidungen in meinem Leben. Auch mit halb so viel Fleiß und Einsatz hätte ich das Studium mit einer angemessenen Note beenden können, wäre in der EDV-Abteilung irgendeines Baustoffhandelskonzerns gelandet wie mein Kommilitone Jens oder wäre Umweltbeauftragter in einer Kleinstadt geworden wie Miranda. Aber nein, ich musste summa cum laude abschließen und alle rissen sich darum, mich einzufangen. Und dem Kernforschungszentrum Karlsruhe konnte ich nicht widerstehen.
Wäre ich nur dort geblieben und nicht zum AKW Neckarwestheim gewechselt. Das war bestimmt mein größter Fehler. Nur weil die viel besser bezahlt haben und ich Vater geworden bin. Dachte, ich müsste als Familienvater für die Meinen sorgen. Hab ich ja prima hinbekommen! Hier vom Sterbebett aus …

Simone war ganz sicher kein Fehler. Obwohl wir vielleicht besser keinen Christian bekommen hätten. Nun muss er ohne Vater aufwachsen. Andererseits … er ist das Beste, was ich je zustande gebracht habe. So hat das Leben doch noch einen Sinn gehabt. Ich muss ihm unbedingt noch einen Brief diktieren. Er soll das Leben genießen, solange es dauert. Soll die Süße des Lebensnektars aussaugen. Ich werde es nicht mehr können.

„Hier, für ihre Füße.“ Nele ist wieder da, und ihre hübsche Erscheinung lässt mich ihr die dumme Bemerkung von eben verzeihen.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragt sie und ich schicke sie, mir einen heißen Tee zu bringen. Ich will sie noch ein bisschen um mich haben. Ich schaue ihr hinterher, als sie das Zimmer verlässt, und freue mich auf ihre Wiederkehr. Es sind nur noch die kleinen Dinge, an denen ich mich erbauen kann.

Walking-Ghost-Phase nennt man den Zustand, in dem ich mich gerade befinde. Es ist ein Zeitraum scheinbarer Erholung nach dem Auftreten der ersten massiven Beschwerden. Und geht dem unvermeidlichen Tod voraus. Die Strahlenkrankheit ist heimtückisch. Die Stammzellen sind zerstört und es gibt keinen Nachschub an neuen Zellen mehr. Bereits fertig ausdifferenzierte Zellen funktionieren aber noch eine Zeit lang, sodass es aussieht, als gäbe es eine Überlebenschance. Doch ich weiß es besser. Eine Äquivalentdosis von zehn Sievert überlebt niemand. Auch kein Thomas Sieger. Außer schmerzlindernden Maßnahmen gibt es keine sinnvolle Therapie.

„Es ist ein Kamillentee, ist das recht?“
„Ja, danke. Bleiben Sie noch ein wenig da? Ich kann nicht schlafen, und wenn ich alleine bin, wandern meine Gedanken zurück zu dieser unseligen Stunde. Das will ich nicht.“
„Sie wollen nicht daran denken, das kann ich verstehen.“
„Und darüber reden will ich auch nicht. Erzählen Sie mir ein bisschen von sich. Sind Sie verheiratet?“
Es ist Small Talk. Etwas, das ich früher gehasst habe. Reine Zeitverschwendung! Doch dieses nächtliche Gespräch mit Nele tut mir gut. Ich habe ihr das Du angeboten. Damit ich wenigstens für eine im Krankenhaus als Thomas sterbe und nicht als Herr Sieger. Warum gerade sie? Weil sie so gut riecht, vermute ich.
Ihre Alltagssorgen zeigen mir, dass die Welt sich weiter dreht, auch wenn ich nicht mehr da bin. Ich habe nicht die Welt zerstört, nur mich. Und ist das wirklich so schlimm?

„Ich muss mal nach den anderen Patienten sehen“, beendete Nele das Gespräch, „aber ich schau in einer Stunde wieder rein. Versprochen.“
Es ist mitten in der Nacht und ich habe noch keine Minute geschlafen. Trotz der vielen Medikamente, die durch die Kanüle in mich hineinfließen. Die Angst vor den Träumen hält mich wach. In ihnen durchlebe ich die Situation wieder, in der ich mich selbst zum Tod verurteilt habe. In allen möglichen Abwandlungen, doch das Ende ist immer gleich: Eine Explosion zerreißt meinen Kopf, während mein Körper weiterlebt. Ein schrecklicher Zustand, der mich mit namenlosem Grauen erfüllt und zuverlässig aufweckt.
In Wirklichkeit ist nichts dergleichen passiert. Es war vollkommen unspektakulär. Nachdem die Nennleistung des Reaktors unter zehn Prozent abgesunken war, und das Neutronen absorbierende Xenon sich gebildet hatte, musste jemand in den abgeschotteten, strahlenverseuchten Bereich. Wir hatten von unseren Steuerungsinstrumenten aus keinen Einfluss mehr. Der Stromausfall, den wir nur simulieren wollten, und der dann plötzlich Realität wurde, legte uns lahm. Die Xenonvergiftung des Reaktors nahm rasend schnell zu. Niemand weiß, wie das passieren konnte und wieso der Notstrom nicht hochkam. Umweltschützer behaupten ja schon lange, dass AKWs nicht ausreichend gegen intelligente Täter geschützt seien. In die Richtung gehen die Vermutungen gerade, habe ich sagen hören. Interessiert mich persönlich aber nicht mehr, da sollen sich andere die Köpfe zerbrechen.

Warum ausgerechnet ich? Diese Frage stelle ich mir immer wieder. Es waren noch andere da. Johannsen, der schon kurz vor der Pensionierung steht. Oder Dieterle, Junggeselle und Frauenheld. Beide haben keine Kinder. Oder Kranich, oder Fleischer. Sie alle hätten ebenfalls den Notschalter bedienen können, um den Reaktor abzuschalten. Aber es blieb keine Zeit zu überlegen. Es musste getan werden, und schnell getan werden.
Noch drängender für mich die Frage, ob ich es wieder tun würde. Wenn ich mit dem Wissen, das ich jetzt habe, wieder in dieser Situation stände: Würde ich wieder hineingehen. Oder würde ich warten, bis jemand anderes sich opfert, selbst auf die Gefahr hin, dass es dann zu spät wäre und die Kernschmelze nicht mehr aufzuhalten? Ich kenne die Antwort nicht. Weiß sie wirklich nicht. Und darum kann ich diese Lobhudelei nicht ertragen. Nur Nele habe ich sie verziehen. Ich hoffe, sie kommt bald wieder. Viel Zeit bleibt mir nicht mehr.

Letzte Aktualisierung: 25.07.2014 - 12.26 Uhr
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