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Verstrahlt | Juli 2014

Craigh na Dun
von Martina Lange

Da war sie wieder, die melancholische Spur einer Erinnerung in der Luft. Torfrauch und Heidekraut. Meine Nasenflügel entfalteten sich, bereit, jedes einzelne Molekül einzufangen um meine Gedanken davonfliegen zu lassen, zurück in der Zeit. Monate. Jahre. Bis zu jenem Augenblick, als alles begann. Als mein vereinzeltes Leben sich aus dem Schatten der Bewegungslosigkeit löste und voranschritt, statt weiter in der Illusion zu verharren.


Die Dunkelheit schlüpfte zurück in ihr Nest unter dem Grabhügel. Vom Boden stieg feuchte Kälte auf und durchdrang mein Kleid. Obwohl mich die dicht gewebte Wolle schützen sollte, wich allmählich die Wärme meines Körpers. Meine Umgebung verschwamm. Ich war auf derartige Nebenwirkung vorbereitet. Trotzdem fiel es mir nicht leicht, die ängstliche Benommenheit zurückzudrängen, weil sich Schemen und Umrisse nur zögernd aus dem Nebel lösten. Blinzelnd versuchte ich mein Sichtfeld zu erweitern, aber ein zweifarbiges Antlitz füllte es fast aus.
Augen, so leuchtend, dass man dem Himmel sein Azur verzieh. Nussdunkles, schulterlanges Haar. Eine schmale Nase und ein markantes Kinn prägten das Gesicht, welches zur Hälfte blau gefärbt war. Unter der Bemalung waren die Augenbrauen dicht zusammengerückt.
Ein erlöstes Seufzen entschlüpfte mir, ohne dass ich es verhindern konnte. Endlich, endlich ging mein Traum in Erfüllung. Ein Highlander!
Der Hochland-Schotte musterte mich besorgt, ganz so wie man ein verletztes Tier begutachtet.
Er hob die Hand und bewegte sie vor meinen Augen hin und her. Das dabei entstandene Fächerbild löste eine Welle von Übelkeit aus, die über mich hinwegrollte und mich zu ertränken drohte. Ich schluckte heftig.
Die tiefe Stimme meines Highlanders zog mich an die Bewusstseinsoberfläche zurück und half mir, mich erneut auf sein Gesicht zu konzentrieren. Silbrige Strahlen. Regenbogenpunkte. Im diesem Feuerwerk verbanden sich seine Mundbewegungen und Laute nicht sinnvoll miteinander.

"Dè tha ceàar ort?" Wie wunderbar er das "R" rollte.
"Ciamar a tha lag ort?" Als ich ihn weiterhin wortlos ansah, runzelte er die Stirn und murmelte etwas, dass wie "Sassenach" klang.
"Was fehlt Ihnen? Ist Ihnen schwindlig?", wiederholte er auf Englisch.
Das Funkenwerk endete. Natürlich! Seine Muttersprache war noch Gälisch und nicht die der verabscheuten Sassenach.
Vorsichtig setzte ich mich auf und atmete instinktiv gegen die Übelkeit an. Allein mein eiserner Wille hinderte mich daran, mein Frühstück im Licht der untergehenden Sonne vor den Augen meines Highlanders auf dem Boden auszubreiten.
Nach all der Zeit und den Mühen, die ich auf mich genommen hatte, um endlich hierherzugelangen, würde ich mir diesen Augenblick nun nicht von ein paar körperlichen Widrigkeiten verderben lassen.

* * *

Der Ursprung meiner Glückssuche lag drei Jahre zurück. Nein, eigentlich begann alles schon sehr viel früher, als ich meinen ersten Schottland-Roman las. Er entflammte mich und weckte in meinem Innersten eine Mischung aus Schmerz und Sehnsucht. Ein ganz und gar unbegründetes Heimweh, nach einem Land, das ich nie betreten hatte. Ich tauchte zeitverloren ein in die Moorlandschaft, die Heide, die schaurigschönen Burgen und die Lochs, tiefe dunkle Seen, in denen sich der hohe Himmel spiegelte. Und begegnete in dieser Buchstabenwelt den Highlandern. Stattlichen, gutaussehenden Kriegern, die vorzugsweise als Lairds die Geschicke ihrer Clans lenkten.
Meiner verträumten Natur nachgebend, verliebte ich mich augenblicklich in jeden Einzelnen von ihnen.
Ich wurde eindeutig in der falschen Zeit geboren, davon war ich nun felsenfest überzeugt. Wenn es doch nur schon die Möglichkeit einer Zeitreise gäbe! Ach, ich würde meinen letzten Cent dafür hergeben.
So verschlang ich alles, was Schottland, seine Geschichte und seine wildromantischen männlichen Bewohner zum Thema hatte. Von meinem unstillbaren Lesehunger getrieben, stieß ich auf Craigh na Dun, einen magischen Steinkreis, der Zeitreisen ermöglichte. Physikalische Bedenken schob ich rigoros beiseite. Ich glaubte an die Kraft der Erdstrahlung, die mich durch das Portal zurück bringen würde, weil ich daran glauben wollte!

Vor einigen tausend Jahren überzogen die Menschen der Megalithkultur Schottland mit Steinkreisen. Jeder in Verbindung mit der energetischen Strahlung der Erde. Wo sollte ich suchen? Wie diesen Craigh na Dun finden? Oder war es gar möglich, dass jeder dieser geweihten Orte die Strahlung der Erde so bündelte, dass die nötige Energie für einen Zeitsprung zur Verfügung stand?
Ich verschaffte mir Karten und recherchierte im Internet, der Craigh na Dun war nicht darunter. Die Bezeichnung war Gälisch und mochte in den modernen, englischen Kartenversion nicht verzeichnet sein. Mir blieb also nichts anderes übrig, als dies vor Ort zu überprüfen.
Strategisch organisierte ich meine Route durch das Land. In meiner Planung berücksichtigte ich dabei durchaus die Möglichkeit, dass sich einige der Steinkreise als Zeitreiseflopp herausstellen würden, bevor ich den richtigen fand. Ich wollte ganz sicher sein, dass ich nicht an ihm vorbeiging, wie auch immer er heißen mochte. Allein der Gedanke Craigh na Dun zu verfehlen, entfachte in mir ein quälendes Brennen, das mir den Atem nahm. Anhand meiner Nachforschungen legte ich endlich den astronomisch günstigsten Zeitraum für meine Unternehmung fest.

Bis zu meiner Abreise sparte ich Geld und Urlaubstage. Erntete widerspruchslos den Spott von Kollegen, die mir meine Passion für das kalte, verregnete Land im Norden, wo Männer Röcke tragen neideten, und brachte einen fahlen Arbeitstag nach dem anderen hinter mich. Von meinem Plan, eine Reise hinaus aus diesem Jahrhundert zu unternehmen, erzählte ich vorsorglich niemandem etwas. Während ich meine Vorbereitungen abschloss, sah ich schon die Tage vor mir leuchten, in denen ich die Chance ergreifen wollte, nie mehr zurückzukommen.
Jede meiner Zellen, war angefüllt mit schäumender Energie, war so leicht, dass meine Füße kaum den Boden berührten ...

... bis ich nach meiner Landung in Edinburgh ein kleines, geländegängiges Fahrzeug belud und mich dem Linksverkehr auslieferte. Glücklicherweise musste man nicht viele Kreisel im Uhrzeigersinn durchfahren, bis man am Stadtrand die Brücke über den Firth of Forth in Richtung Inverness überquerte. Die Hektik deutscher Straßen wich mit jeder Meile von mir und schon bald genoss ich die ungewohnte Fahrweise durch die, mit Heidekraut und Ginster bewachsene raue Berglandschaft. Siegesgewiss bezog ich gegen Abend in der heimlichen Hauptstadt der Highlands, Inverness, mein Quartier. Im aufgestauten Überschwang blieb mir der Schlaf fern, denn ich musste den Beginn meines neuen Lebens sehen, riechen und schmecken.

Dem Fluss Ness folgend, begann ich im Morgengrauen mit meiner Operation "Zeitreise". Ich legte meine Hände auf Menhire, umrundete Craigs, jene mit Gras bewachsenen Grabhügel, und stand im Licht von Sonne und Mond vor Megalithen. Nichts.
Nach Auskunft der Einheimischen führte einmal der linke Weg zum Steinkreis Craigh na Dun, dann wieder der rechte oder gar der hinauf zu den Inseln. Gleichgültig, wo und wann ich mich den uralten rituellen Plätzen näherte, durchfuhr mich kein Kribbeln, keine sonderbare Strahlung, kein seltsames Leuchten, und ich blieb niedergedrückt in meiner Zeit kleben. Einen Versuch gestand ich mir noch zu, wie ein Spieler, der sein allerletztes Spiel machen musste, und folgte der Straße nach Norden, in die wohl einsamste Gegend der Highlands.

* * *

Enervierend breitete sich das Pochen von meinem Hinterkopf aus und entfachte scheußliche Kopfschmerzen, bis in die Haarspitzen. Hoffentlich gab es in dieser Zeit Weidenrinde, sollten meine Aspirin die Reise nicht heil überstanden haben.

Der Highlander stützte mich und half mir aufzustehen. Seine Knie waren schmutzig und sein Kilt durchnässt. Er musste lange neben mir gekniet haben. Um uns warfen die Menhire lange Schatten über das frisch ausgehobene Rechteck im Boden. Erst jetzt bemerkte ich eine Gruppe von weiteren Männern und Frauen, die am Rand standen und mich anstarrten. Mein plötzliches Erscheinen aus dem Nichts würde einiger Erklärungen bedürfen. Mit Schrecken dachte ich daran, dass, sollte mein Erscheinen durch Strahlen oder Blitze begleitet worden sein, diese Menschen dort mich für eine Hexe halten könnten. Was mir bevorstand, sollte ich mich vor dem achtzehnten Jahrhundert befinden, mochte ich mir nicht ausmalen. Verstohlen suchte ich in den Gesichtern nach Anzeichen von Mordlust.

"Ist sie verletzt?"
"Aye, ich denke, sie wird eine gewaltige Beule haben und eine Gehirnerschütterung. Ist Ihnen übel?" Mein Highlander behielt die englische Sprache mit seinem deutlichen Akzent bei und streckte seine Hand aus, um meinen Hinterkopf zu untersuchen.
"Au, nein nicht mehr."
"Sehr gut, dann bringen wir Sie erst einmal ins Lager. Ein Schluck Whisky auf den Schreck wird uns allen gut tun."
Langsam führte er mich durch die Umstehenden, die sich uns anschlossen. Gemeinsam erreichten wir schon nach wenigen Schritten eine Siedlung im Schatten einer Burgruine.

Einige der Blackhouses, der schmalen ebenerdigen Bauernhäuser, waren älter. Moos wuchs bereits auf den niedrigen Heidekrautdächern. Mein Highlander führte mich jedoch zu einem, das recht neu aussah. Frisch verputzte Wände reflektierten den Schein einer Lampe, das Kraut war noch nicht zurechtgestutzt. Aromatischer Torfrauch stieg aus dem Loch im Dach auf. Ich sog ihn sehnsüchtig ein und musste husten. Mir gegenüber stand ein älterer Mann in Cargohosen mit einer Taschenlampe.
Zum zweiten Mal an diesem Tag schwanden mir die Sinne. Auf meiner Suche nach der richtigen Zeit, war ich mitten in eine Exkursion der Universität Glasgow gestolpert und hatte mir den Hinterkopf an einem der liegenden Steine angeschlagen.


Die Reise durch die Zeit war anders verlaufen, als ich gedacht hatte. Meinen Highlander fand ich trotzdem und Er füllt nun meine Realität mit seinem Sein und löste die Illusion der Vergangenheit auf.

Letzte Aktualisierung: 25.07.2014 - 09.52 Uhr
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