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Schön sein | August 2014

Dies Bildnis ist bezaubernd schön ...
von Elsa Rieger

Mitnichten. Zu meinem allmorgendlichen Ritual gehört das Schminken beim Frühstück. Ich sitze an meinem Küchentisch, schlürfe Kaffee und freue mich über den neuen Tag. Lese die Zeitung, genieße die Ruhe vor dem Sturm, der Arbeit heißt.

Und dann greife ich zum Handspiegel. Lege ihn flach auf den Tisch, er hat keine Haltebügel, beuge mich darüber und erblicke die nackte Wahrheit. Meine Nägel verkrallen sich ins Tischtuch. Jeden Morgen der Schock, ich gewöhne mich einfach nicht daran.
Haben Sie schon mal einen Spiegel vor sich hingelegt, sich darüber gebeugt und Ihr Gesicht darin betrachtet? Die Wangen erinnern an hängende Hamsterbacken, die Tränensäcke werden von der Schwerkraft abwärts gezogen, unter dem Kinn erscheint in dieser Haltung zumindest der Anflug eines Goders.
Ich denke mit Schrecken an die vergangene Liebesnacht mit meinem Gemahl. Lustvoll beugte ich mich über ihn, als wäre er mein Spiegel! Ab Fünfzig nur noch die Missionarsstellung, liebe Damen, merken Sie sich das.
Wenn ich wieder fähig bin, den Blick von mir abzuwenden, die Nägel aus dem Tischtuch zu ziehen, packe ich den Spiegel und verkeile ihn in aufrechter Haltung vor einem Stoß Bücher, die ich gerade lese. Na bitte! Geht doch! Ich wage ein Lächeln.

Als mein Mann herein kommt – „Guten Morgen, Liebste“, sagt er –, bin ich schon restauriert. Doch hinter der Maske kreist unaufhörlich ein Wort: Botox!
Dann sagt er: „Ich liebe jede deiner Falten. Sie sind in unserem gemeinsamen Lachen und Weinen entstanden. Dem Kummer, Streit, der Leidenschaft. Dem Leben.“
Ich seufze vor Ergriffenheit.

Was schert mich Botox? Ich kaufe heute einen Spiegel mit Ständer!

Elsa Rieger 1. Version

Letzte Aktualisierung: 05.08.2014 - 20.13 Uhr
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