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Schön sein | August 2014

Die kleine Meerjungfrau
von Barbara Hennermann

Ihre Lippen, rot und prall wie reife Kirschen, unterstrichen das Veilchenblau ihrer mandelförmigen Augen. Die langen, schwarzen Wimpern beschatteten die fein gezeichnete Nase und Wangenpartie. Wie eine Krone aus goldenen Strahlen umflossen die langen blonden Haare ihr Haupt. Verführerisch hoben und senkten sich die makellosen Brüste im wechselnden Muskelspiel. Ihr flacher Bauch endete im glänzend schuppigen Fischschwanz.
Ein Meisterwerk von märchenhafter Schönheit war sie.
Geschaffen aus dem Nichts, einzig und allein für ihren Herrn und Meister. Treu ergeben hatte sie ihn begleitet, über Jahrzehnte hinweg sein Leben geteilt. Stolz war sie gewesen auf ihre Schönheit, stolz auf seine Aufmerksamkeit, seine Zuwendung.
Denn auch er hatte sie, voller Stolz auf ihre Schönheit, geliebt, offen oder im Verborgenen. Sie atmete seinen Atem, bewegte sich in seinem Rhythmus, lebte und wuchs mit ihm.

Doch wie vergänglich ist die Zeit!
Was war geworden aus ihrer einstigen, einzigartigen Schönheit?
Was war geblieben?
Zerknittert das Gesicht, verrunzelt die vormals glatte Haut ihres Körpers, wellig die goldene Haarpracht, hängend die Brüste, aufgedunsen der Fischschwanz, verblasst die kräftigen Farben ihrer Jugend.
Der tägliche Blick in den Spiegel bestätigte ihren Verfall.
Und sie wusste – auch er nahm ihn wahr. Auch er litt darunter.
Doch er war ein Mann.
Nicht angewiesen auf eigene Schönheit.
Er würde reagieren, das erahnte sie.
Die Angst kroch in ihr hoch. Die Angst, die alle spüren, die von Verfall und Tod gezeichnet sind ...

...

Anette lag im Bett und schielte zu Herbert hinüber, der sich wieder einmal vor dem großen Schlafzimmerspiegel drehte und wendete wie der Gockel auf dem Mist. Ganz schön alt war er geworden, ihr Herbert, in den vierzig Jahren, die sie nun schon verheiratet waren! Gut so, denn schließlich war sie selbst ja auch nicht jünger geworden ... Sie kicherte leise und pustete ihm einen Kuss zu.
„Also, Anette, ich weiß nicht ... Meinst du wirklich, ich soll ...“
„Herbert, ich bitte dich! Wie oft haben wir nun schon darüber gesprochen? Mal ganz abgesehen davon, dass ich dieses Geschöpf da von Anfang an nicht gemocht und nur aus Liebe zu dir in Kauf genommen habe – aber jetzt, in deinem Alter? Du meine Güte, die sieht doch jetzt aus wie eine gegrillte Makrele!“
Behutsam glitten Herberts Finger über das Tattoo.
Naja, es stimmte schon, was Anette sagte. Die Meerjungfrau über seiner rechten Brustwarze nahm sich im Hinblick auf seine Gesamterscheinung inzwischen tatsächlich, nun - hm, etwas befremdlich aus. Sein Körper hatte die Kleine doch sehr zu ihren Ungunsten in den Alterungsprozess mit einbezogen ...
Mit Mitte dreißig denkt man eben nicht an den Verfall. Und im Grunde war es ein Glück, dass man zumindest solche Fehler aus der Jugend inzwischen revidieren konnte.
Er atmete tief durch.
„Ja gut, Anette, ich mach morgen einen Termin beim Hautarzt aus.“


...

Getränkt von Tränen die Nacht. Ihre Zeit war vorbei, ihr Tod beschlossen.

...

„Also echt, Anette, so schlecht habe ich schon lange nicht mehr geschlafen! Sieh nur, mein Bett ist völlig verschwitzt! Vielleicht sollte ich mir das mit dem Lasern doch noch mal überlegen ...?“

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Letzte Aktualisierung: 26.08.2014 - 20.01 Uhr
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