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Schön sein | August 2014

Kopfsache
von Jochen Ruscheweyh

Kopfsache
Ihre Wangen glichen zwei roten reifen Äpfeln, als sie sich ein letztes Mal auf seiner Brust abstütze, ihr Becken hob, ein kurzes Seufzen von sich gab, und dann in sich zusammen- und neben ihn auf das Laken fiel.

Sie schlängelte sich ein wenig hin und her, bis sie wie er auf dem Rücken zu liegen kam und ihr Kopf auf seinem Arm ruhte.
„Du bist so schön“, flüsterte sie, ohne die Augen zu öffnen.
Er streifte vorsichtig das Kondom ab und ließ es neben das Bett gleiten.
„Dafür kommen wir beide in die Hölle, auch wenn du ein Kreuz um den Hals trägst“, sagte er und folgte ihrer Hand, die begann, die Spuren seines Höhepunkts in die Haut um seinen Bauchnabel einzumassieren.
„Du bist so schön“, wiederholte sie.
„Du auch.“

„Ich meine das wirklich ernst“, sagte sie nach einer Weile, stützte sich auf einen Ellenbogen auf und betrachtete ihn von der Seite. „Ist dir eigentlich bewusst, dass deine Wangenknochen eine Form haben, wie sie nur bei einem unter vier Millionen Menschen vorkommt?“
„Und ich habe noch nie so wohlgeformte Brüste wie deine gesehen, geschweige denn angefasst, Friedrike“, antwortete er und zog mit der Fingerspitze den Rand ihrer Höfe nach.
Langsam ließ sie ihren Kopf wieder auf seinen Arm sinken.

„Bist du dir eigentlich darüber im Klaren, dass du eine große Verantwortung trägst?“, fragte sie.
„Inwiefern?“
„Menschen schauen auf dich, wollen sich mit dir zeigen und mit deiner Schönheit umgeben. Und sie finden, dass deine Meinung richtig ist. Weil du schön bist.“
„Ach was.“
„Doch!“, sagte sie und küsste ihn kurz, aber intensiv auf den Mund. „Wenn du lernst, deine Schönheit einzusetzen, läuft es genau so.“
Er zog seinen Arm unter ihrem Kopf hervor und setzte sich auf. „Ich kann mir nicht vorstellen“, sagte er, „dass es Leute gibt, die wirklich so dumm sind. Niemand hat immer die richtige Meinung. Ist es nicht überhaupt das, worum es in einer Demokratie geht, unterschiedliche Meinungen zu haben?“

Sie krabbelte hinter ihn, schlang ihre Beine um seine Hüfte und packte seine Schultern. „Menschen brauchen andere Menschen, um zu ihnen aufzublicken. Das ist einfaches I.I.C.“
„Was ist I.I.C.?
Sie fuhr mit der Zunge über seine Ohrmuschel. Ihre Stimme klang jetzt eher wie ein Hauchen: „Identification, Imitation, Celebration. Das ist eine der Grundformeln menschlichen Handelns.“

„Warum betrügst du deinen Mann?“
„Vielleicht“, gab sie zurück, „weil ich einen ungeschliffenen Rohdiamanten vor mir sehe und ich darauf brenne, ihn zu bearbeiten.“ Sie tastete nach seinen Beckenknochen und begann, mit seinem krausen Haar zu spielen, während sie fortfuhr: „Ich vertrete eine Gruppe von sehr reichen und mächtigen Leuten, die ihren Status verständlicherweise ausbauen möchten.“
„Und was hat das mit mir zu tun?“
„Ich biete dir die Chance, finanziell vollkommen sorgenfrei und unabhängig zu leben, Thomas. Im Gegenzug“, sie drückte ihre Brüste fester gegen seinen Rücken und umfasste seinen Hoden mit einer Hand, „erwarte ich eine diskrete Form der Lobbyarbeit von dir. Manchmal geht es vielleicht darum, beispielsweise einen bestimmten Pfeifen-Tabak mit Kirschgeschmack, der auf dem Markt platziert werden soll, in einer V.I.P-Lounge zu rauchen oder sich in einer speziellen Kleidungsmarke zu zeigen.“ Ihre Hand tastete sich weiter nach oben und nahm von schnalzenden Lauten begleitet Bewegung auf.
„Es geht noch nicht wieder.“
„Schhhht, lass mich nur machen. Was wir dringend von dir erwarten, ist, dass du bei speziellen Dinner-Veranstaltungen oder Benefiz-Galas unsere Position zu Gaza, der Ukraine oder T.T.I.P. transportierst.“
„Ich kann nicht.“
Sie überzog seinen Nacken mit kleinen Bissen, griff nach seinen Brustwarzen und drehte diese hart zwischen Daumen und Zeigefinger.
Er stöhnte auf.
„Du solltest es so sehen, dass viele Menschen im Grunde genommen vollkommen unfähig sind, sich eine unabhängige Meinung zu bilden. Es überfordert sie. Wir nehmen ihnen sozusagen eine Last ab.“
„Es geht nicht.“
„Das ist alles eine Kopfsache. Ich will, dass du mich ansiehst“, zischte sie in sein Ohr, wand sich um ihn herum und stemmte sich ihm entgegen. Sie griff unter sich und versuchte ihn zu dirigieren.
Er ließ sich nach hinten fallen.

„Du siehst deine Verantwortung, aber willst sie nicht übernehmen.“
„Das ist es nicht“, sagte er. „Natürlich weiß ich, dass ich eine gewisse Wirkung auf Menschen habe. Und ich habe kein Problem damit, das von Zeit zu Zeit mal auszunutzen, beispielsweise wenn ich beim Bäcker anstehe. Aber, was du von mir verlangst, ist doch eine ganz andere Dimension.“
Sie stand auf und griff nach ihrem BH.
„Aber du hattest keine moralischen Bedenken, mich ins Bett zu kriegen.“
„Ich glaube, jeder ist in irgendeiner Weise für sich selbst verantwortlich. Und es ist dein christlicher Glauben und dein bürgerlicher Job. Und vor allem deine Ehe.
Sie zog ihre Hose an und streifte sich ihre Bluse über. „Das ist nicht akzeptabel.“
„Ich stehe politisch nun mal eher auf der anderen Seite des Spielfelds.“

„Das ist nicht akzeptabel“, wiederholte sie.
„Ich werde mein Aussehen aber definitiv nicht in den Dienst von irgendeiner Gruppierung stellen.“
Friederike schüttelte den Kopf, griff nach ihrer Handtasche, holte einen kleinen Flakon hervor und sprühte sich etwas Parfum an Hals und Dekolleté. Anschließend beugte sie sich zu ihm herunter und küsste ihn noch einmal.
„Das Zimmer ist bezahlt. Du solltest dringend duschen.“



Eine Weile nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, klopfte es an der Tür. Er band sich ein Handtuch um und öffnete. Ein Mann und eine Frau standen ihm gegenüber, unauffällig gekleidet in Anzug und Kostüm, mit Namensschildern einer religiösen Organisation am Revers.
„Du musst Verständnis dafür haben, dass wir nicht riskieren können, dass die politische Gegenseite dein Potential entdeckt und dich für ihre Zwecke einsetzt.“

(V2)

Letzte Aktualisierung: 21.08.2014 - 18.06 Uhr
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