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Schön sein | August 2014

Das Auge des Betrachters
von Marcel Porta

„Hast du diesen Satz verstanden, Marco? Der ist doch absurd!“ Sabine schaut ihren Kommilitonen an und runzelt die Stirn. „Die Funktion kann doch nicht gleichzeitig differenzierbar sein und auch wieder nicht. Manno, ich hab keine Lust mehr!“
„Blick‘ ich auch nicht“, gibt Marco zu. „Wie wĂ€r’s erst mal mit Kaffee?“
„Prima! Hast du Geld dabei?“
„Klar, ich lad dich ein.“

Sabine und Marco stehen beide vor der PrĂŒfung zum Vordiplom. TĂ€glich lernen sie zusammen, meist bei Marco, weil Sabines Mutter so komisch schaut, wenn sie mĂ€nnlichen Besuch mitbringt. Einmal hat sie Marco mit dem Ausspruch „Ah, der Herr Student!“ begrĂŒĂŸt und nun legt der keinen gesteigerten Wert mehr darauf, bei ihr zu Hause aufzuschlagen. Heute haben sie sich bei der Fachschaft in die Funktionalanalysis vertieft, und die Stunden sind wie im Flug vergangen.

„Stell dir vor“, erzĂ€hlt Sabine beim Cappuccino, „letztes Wochenende hatte ich Klassentreffen. Wir waren ĂŒber 60 Leute. Ich war die Einzige, die Mathe studiert und die Einzige ohne Partner. Es hat wehgetan – das mit dem Partner.“
„Wieso?“, fragt Marco, „du hĂ€ttest lĂ€ngst einen Freund, wenn du wolltest.“
„Ja, klar. Glaubst du, ich bin blind?“
WellenlĂ€nge hin oder her, in diesem Punkt geraten sie stĂ€ndig aneinander. Je mehr Marco beteuert, dass sie in seinen Augen nicht unattraktiv ist, desto weniger glaubt sie ihm. FĂŒr sie bleibt ihr mangelhaftes Äußeres eine gegebene GrĂ¶ĂŸe, darum wird am Ende zwischen ihrem Aussehen und Schönheit immer ein Ungleichheitszeichen stehen.
Diesmal echauffiert sich Marco besonders. Seine Wangen röten sich.
„Dir ist nicht zu helfen“, resigniert er endlich, und als sie sich trennen, schleicht er traurig nach Hause.

Sabine bricht zu Hause vor dem Spiegel aufgewĂŒhlt in TrĂ€nen aus.
„WĂ€rst du nur eine Vektorgrafik“, schreit sie ihr Spiegelbild an. „Dann könnte ich dich schön rechnen – und wĂŒrde endlich einen Freund finden!“
„Wenn’s weiter nichts ist“, antwortet eine Stimme aus dem Nichts.
Zu Tode erschrocken springt Sabine einen Meter zurĂŒck.
„Wa
 was?“, stammelt sie.
„Ich bin der Spiegelbold. Meine Macht ist unendlich groß, und Deine TrĂ€nen haben mich gerĂŒhrt. Oder, um ehrlich zu sein: Dein ewig gleiches Genöle geht mir auf den Wecker.“
„Dann mach doch, wenn das so einfach ist! Gib mir Symmetrie, verschaff mir Ästhetik, mach mich schön!“, schreit Sabine und denkt sich nichts dabei, eine nicht vorhandene Person anzubrĂŒllen.
„Mach ich. Aber erst das Kleingedruckte.“
„Unwichtig. Leg los“, beharrt Sabine.
„Ich bestehe darauf. Laut ungeschriebenem Gesetz zur spontanen WunscherfĂŒllung muss ich darauf hinweisen.“
„Gut. Aber beeil dich!“
„Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Schon mal gehört?“
Sabine rollt die Augen. „Weiß ich. Weiter.“
„Roll nicht mit den Augen, hör mir zu! Schönheit kommt von innen. Hör auf, hab ich gesagt! Sonst bin ich weg. Na also, geht doch 
 Was ich sagen will: Um dein Äußeres zu verĂ€ndern, muss ich auch dein Inneres 
 quasi anpassen.“
„Ja, nein, ist mir egal“, antwortet die junge Frau, die gar nicht richtig zugehört hat. „FĂŒr meine Persönlichkeit interessiert man sich ja noch weniger als fĂŒr den Rest. Hauptsache, die MĂ€nner drehen sich endlich nach mir um. Also mach hinne!“
Ihr Wunsch ist so ĂŒbermĂ€chtig, dass sie sich weder ĂŒber die abstruse Situation noch ums Kleingedruckte irgendwelche Gedanken macht.

„Letzte Warnung, meine Liebe 
“
„Red doch kein Blech! Mach mich attraktiv, oder bist du damit doch ĂŒberfordert!? Ist es so aussichtslos bei mir?“
„Damit legst du den Finger in die Wunde. Aber anders, als du denkst. Doch bitte, wie du willst – wenn du genug hast, komm zurĂŒck und ruf mich.“
„Niemals.“
Eine hektische Röte breitet sich ĂŒber Sabines Gesicht aus und macht, dass sie sich noch hĂ€sslicher fĂŒhlt als zuvor.

Doch dann geschieht Unglaubliches. Ihre Wangenknochen rĂŒcken einige Millimeterchen zusammen, die Nase wandert um eine Nuance nach links und der NasenrĂŒcken wird schmaler. Die Augen erstrahlen in einem satten GrĂŒn und der Schwung der Augenbrauen wird kĂŒhner, fast einen Tick arrogant. Das Kinn schiebt sich energisch nach vorne.
Ihre Bluse spannt plötzlich, und Sabine ist mindestens fĂŒnf Zentimeter grĂ¶ĂŸer. Ihre plumpen HĂ€nde werden lang und zierlich, ihre FĂŒĂŸe haben ungewohnten Platz in den Schuhen.
„Danke! Danke! Danke!“, stammelt sie und taumelt aus dem Bad, nur um sofort zurĂŒckzustĂŒrzen und sich eingehend im Spiegel zu betrachten. Je lĂ€nger sie davor steht, desto fröhlicher und lebenshungriger wird sie.

„Uniball, ich komme!“, jubiliert sie und tanzt durch das Wohnzimmer. Mit fliegenden HĂ€nden durchwĂŒhlt sie ihre Garderobe, wirft alles, was grau oder schwarz ist, in die Ecke, wĂ€hlt ein dunkelrotes Kleid aus, das sie noch nie getragen hat. Den BH zieht sie aus und wirft ihn auf den Haufen der ausgemusterten Kleider.
„Brauch ich jetzt nicht mehr“, kommentiert sie ihr Tun. „Morgen geh‘ ich shoppen: Klamotten und Make-Up. Dass ich aber auch keinen Lippenstift im Haus hab!“

Die junge Frau, die ĂŒber die Treppe nach unten schwebt, wurde in diesem Haus noch nie gesehen. Der Taxifahrer, der sie zur Uni bringt, kriegt den Mund nicht zu und macht zweideutige Komplimente. Statt sich wie frĂŒher darĂŒber aufzuregen, lĂ€chelt sie still in sich hinein und sonnt sich darin.
Der Abend wird ein voller Erfolg. Sie tanzt bis zum Umfallen. Kaum lĂ€sst ein Partner ihre Hand los, schon steht der nĂ€chste bereit und wirbelt sie ĂŒber die TanzflĂ€che. Sabines Lachen schwingt sich ĂŒber die Menschen und ĂŒbertönt sogar die laute Musik. Sie verlĂ€sst als eine der Letzten das Fest, und als ein junger Mann sie nach Hause fĂ€hrt, ist sie glĂŒcklich mit jeder Faser ihres Körpers.
Sie sprĂŒht vor Leben, obwohl sie sonst um diese Uhrzeit lĂ€ngst todmĂŒde wĂ€re.

Sabines Leben erfÀhrt eine drastische Wendung.
Sie arbeitet stundenweise in einer Modelagentur und ihr Konterfei ziert die LitfaßsĂ€ulen der Stadt.
„Wo haben Sie die ersten Semester studiert?“, wird sie gefragt, weil niemand sich vorstellen kann, diese Frau ĂŒbersehen zu haben. VerschĂ€mt verschweigt Sabine, dass sie bereits im fĂŒnften Semester an dieser Uni ist.
Ihr Zauber zieht tĂ€glich neue Menschen in den Bann, und die Zahl ihrer Liebhaber steigt von Monat zu Monat. Eine feste Bindung geht sie nicht ein, keiner scheint ihr gut genug. Nun, da sie schön ist und begehrenswert, will sie sich nicht an irgendeinen wegschmeißen. Der Besondere wird kommen, davon ist sie ĂŒberzeugt. Denn sie ist endlich schön. Das Leben wird es nur noch gut mit ihr meinen.

Dass das nicht ganz stimmt, erfĂ€hrt sie am Ende des Semesters, als sie mit Sang und Klang durch die PrĂŒfung in Analysis rasselt. Dabei war sie einigermaßen vorbereitet, doch die Party nachts zuvor war ausschweifend. Sie verschlief und kam fast eine Stunde zu spĂ€t zur PrĂŒfung.

„Macht nichts, das hol ich spielend wieder auf“, beschwichtigt sie ihr schlechtes Gewissen. „Auf ein Semester hin oder her kommt es sowieso nicht an. Und dass es sich nicht lohnt, wegen diesem Döskopp Michael zu spĂ€t zu kommen, war gestern Abend noch nicht abzusehen.“
Leider geht es ihr mit allen MĂ€nnern so.
Noch ein ganzes Semester geht ins Land, bis sie nachdenklich wird.

„Das ist selbst randomisiert nicht erklĂ€rbar“, sagt ihr analytischer Verstand. „Da muss irgendwas mit den PrĂ€missen nicht stimmen. Oder mit den Schlussfolgerungen.“
Kurze Zeit gelingt es ihr noch, diese hÀretischen Gedanken zu ignorieren, doch eines Tages, als wieder einmal ein Liebhaber sich als herbe EnttÀuschung erweist, geht sie mit sich ins Gericht.
„Schönheit korreliert nicht mit HerzensgĂŒte, und auch mit sonst keiner Eigenschaft, die ich von einem Mann erwarte.“ Eine bittere Wahrheit. Und natĂŒrlich hört ihr an Schlussfolgerungen gewöhntes Gehirn bei dieser Einsicht nicht auf.
„Und was folgt fĂŒr mich daraus? Dieser Spiegel hat von Persönlichkeitsanpassung gesprochen. Wer bin ich also jetzt?“
Als sie ĂŒberlegt, wer das beurteilen könnte, fĂ€llt ihr Marco wieder ein. Erschrocken bemerkt sie, dass sie ihn seit Monaten nicht mehr gesehen hat. Genau genommen seit ihrer Verwandlung nicht.

Sofort bricht sie zu Marcos Wohnung auf. Wenn sie dem Schild an der Klingel glauben kann, wohnt er immer noch dort. Eine ungewohnte Erregung befÀllt sie, als sie lÀutet und hört, dass er zu Hause ist.

„Guten Tag, Marco“, begrĂŒĂŸt sie ihn verlegen. Er ist noch der Alte, stellt sie erleichtert fest.
„Hallo, Sabine. Du weißt also noch, wo ich wohne. Ich dachte, du bist jetzt so entschwebt, dass wir Normalsterblichen dir vollkommen aus dem GedĂ€chtnis getilgt sind.“
„Marco, bitte. Hab ich mich verĂ€ndert? Nicht körperlich, das weiß ich selber. Seelisch meine ich.“
Ein bitteres Lachen gibt ihr Antwort.
„Nun sag schon!“
„Körperlich hast du dich kein bisschen verĂ€ndert, schau dir nur alte Fotos an. Dieselbe Sabine, die ich immer geliebt habe. Aber den Menschen Sabine finde ich darin nicht mehr. Aus der lieben Freundin ist eine mĂ€nnergeile Zicke geworden.“
“Ich weiß, wo die alte Sabine ist, Marco. Komm mit, jetzt gleich!“ Ihre Stimme zittert vor Aufregung. „Ich habe ein Date mit meinem Badezimmerspiegel und will, dass du dabei bist. Und danach hab ich eins mit dir – wenn du noch möchtest. Die Gleichung hat eine zweite Lösung! Wie konnte ich nur so blind sein, das nicht zu sehen.“

© Marcel Porta, 2014
Version 2

Letzte Aktualisierung: 24.08.2014 - 09.10 Uhr
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