Julia half ihrer Mutter Marlies beim Eindecken der Kaffeetafel.
âDu hĂ€ttest deinen Vater doch besser vom Bahnhof abholen sollenâ, sorgte sich Marlies. âEr bringt es fertig und steigt in den falschen Bus ein.â Sie verteilte die Servietten.
âAch Mutt, du machst dir unnötige Sorgen. Paps ist noch nicht senil. Der ist fĂŒr seine siebzig Lenze recht fidel.â
Ihre Mutter schĂŒttelte den Kopf. âFidel? Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie er sich in der Stadt verlaufen hat, weil er eine ParfĂŒmerie gesucht hat?â
âAber nun muss er doch nur aus dem Bahnhof raus und in die Linie Zwei einsteigen.â
Marlies blickte ungeduldig auf die Uhr. âEr mĂŒsste lĂ€ngst hier sein.â
* * *
Heinz-JĂŒrgen hievte seinen Koffer durch den engen Gang im Zug und auĂerdem hielt er in der Linken auch noch ein groĂes Bild. Die anderen FahrgĂ€ste waren nicht begeistert von seinem Ausstiegmanöver.
Das GemÀlde war ein Abschiedsgeschenk von Gertrud. Sie war ihm wÀhrend der Kur drei Wochen nicht von den Fersen gewichen und hatte sich selbst zu seinem Kurschatten benannt. SÀmtliche Versuche, dieser Dame zu entkommen, waren fehlgeschlagen.
Also hatte er sich mit der Situation arrangiert und das Beste daraus gemacht. Weil Gertrud motorisiert war, haben sie einige Ausflugsfahrten unternommen, die Gegend erkundet und auch der abendliche Tanz war dabei nicht zu kurz gekommen.
Bis um zweiundzwanzig Uhr, verstand sich.
Sie, ein PlappermĂ€ulchen, erzĂ€hlte viel von sich, dass sie bereits den dritten Ehemann ĂŒberlebt habe, und von ihrem Hobby, dem Malen. Da blieb es nicht aus, dass auch Heinz-JĂŒrgen von seiner langjĂ€hrigen, glĂŒcklichen Ehe mit Marlies berichtete, und von seinen HandwerkskĂŒnsten mit eigener kleiner Werkstatt im Garten.
âUnd du bist nie fremdgegangen?â, wollte Gertrud, bereits recht vertraut mit ihm, wissen.
Heinz-JĂŒrgen schĂŒttelte den Kopf. âDas wĂ€re mir, organisatorisch betrachtet, viel zu aufwĂ€ndig und zu anstrengend gewesen. AuĂerdem liebe ich meine Frau.â
Sie saĂen im Kurpark unter einer Linde.
Die Sonne tauchte die Wiesenblumen in ein helles Licht. Die Bienen machten sich emsig an den BlĂŒten zu schaffen.
Gertrud ergriff seine Hand. âWo bitte mĂŒssen wir hier in der Kur etwas organisieren?â
Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und seufzte. âIch könnte dich verwöhnen, wie du es vorher noch nie erlebt hast. Und was deine Gattin nicht weiĂ, macht sie nicht heiĂ.â
Er rĂŒckte seine Krawatte zurecht und ein wenig von Gertrud ab. âVersteh mi-hich, mich, ni-hicht, nicht falschâ, stotterte er, âaber auch Marlies ist mir stets treu geblieben.â
Sie lachte laut. âKannst du dir da so sicher sein?â Wieder ergriff sie seine Hand. âWir können doch auch mal was Neues fernab der Heimat ausprobieren. Ich liebe brave, solide MĂ€nner, wie du einer bist, denn unter einem sanften GemĂŒt brodelt bestimmt ein heiĂer Vulkan.â
* * *
Endlich war Heinz-JĂŒrgen samt Koffer und Bild aus dem Zug ausgestiegen. Er blickte suchend um sich.
Irgendwo musste es doch eine Möglichkeit geben, sich dieses Bildes zu entledigen, ohne dass es besonders auffiel. Er blickte halb amĂŒsiert, halb erschĂŒttert auf das rosa Einschlagpapier mit der pinkfarbenen Schleife darum.
âIch hab âs fĂŒr dich gemalt. Nur fĂŒr dich. Weil ich meine, dass du eine Frau brauchst, die dir sagt, wo es langgeht, langgehen muss. Eine, die den Ton angibtâ, hatte Gertrud gesĂ€uselt und sich eine TrĂ€ne abgetupft mit ihrem Spitzentaschentuch.
Dann schloss sich die ZugtĂŒr.
ZunĂ€chst wollte Heinz-JĂŒrgen das Bild einfach in der Zug-Toilette stehen lassen, aber es passte nicht hinein in diese Enge.
Dann hatte er sich kurz auf einen Sitz gesetzt, war aufgestanden und gegangen.
âHallo! Sie haben was vergessen!â Ein junger Mann eilte mit dem Kunstwerk im Gang zu ihm und sagte entschuldigend. âMein Opa vergisst auch mal ab und zu was.â
Also stand er wieder da mit diesem ungeliebten Geschenk.
Und wenn er es einfach dem unfreundlichen Schaffner ĂŒber den Kopf schlug? âKoffer UND SperrmĂŒll im Gang, das geht ĂŒberhaupt nicht!â
âUnd stramm stehen!â, hatte Heinz-JĂŒrgen gedacht, sagte aber, âSie sind so nett, da will ich Ihnen gerne dieses Geschenk zukommen lassen.â DrĂŒckte es ihm in die Arme.
Der verdutzte Bahnangestellte setzte es abrupt ab, als könne er sich die HĂ€nde verbrennen und zischte, âBestechung im Dienst, das geht ĂŒberhaupt nicht.â
Nun also irrte er auf dem Bahnhof umher und suchte das Klo. Alte Bahnhofstoiletten waren zwar schmuddelig, aber gerÀumig. Platz genug, dieses Bild in einer der Kabinen zu deponieren.
Er könnte auch die Damen in der Bahnhofsmission mit dem Kunstwerk beglĂŒcken, ĂŒberlegte Heinz-JĂŒrgen kurz, verwarf den Gedanken aber schnell.
Just in dem Moment, als er die Klinke herunterdrĂŒcken wollte, rief jemand.
âPaps! Hie-hier! Hie-hier bin ich!â
Plötzlich stand Julia keuchend neben ihm. âDu kennst ja Mutt. Sie hat darauf bestanden, dass ich dich abhole.â Sie nahm ihm das Bild ab. âEin Geschenk fĂŒr Mutt? Oh, wie sĂŒĂ du das eingepackt hast! Da wird sie sich freuen.â
Ehe er antworten konnte, marschierte sie mit dem Bild unter ihrem Arm vorne weg. âWir mĂŒssen uns beeilen, ich habe nur fĂŒr fĂŒnfzehn Minuten die Parkuhr gefĂŒttert.â
* * *
Es kam, wie es kommen musste!
NatĂŒrlich hatte Heinz-JĂŒrgen es nicht geschafft, sich das Bild aus dem Kofferraum zu schnappen, um es in seiner kleinen Gartenwerksatt zu verstecken.
Stattdessen drĂŒckte Marlies es an sich und gab ihm zum Dank einen dicken Schmatzer auf die Wange.
Julia goss den Kaffee ein.
Marlies riss die Verpackung auf, drehte und wendete das KunststĂŒck, wurde erst rot, dann blass, ihre Augen drohten aus den AugĂ€pfeln zu springen, als sie schrie: âSo ist das also! So siehst du unsere langjĂ€hrige Ehe! Und ich habe immer gedacht, dass auch du glĂŒcklich bist!â
Marlies fiel rĂŒcklings auf das Sofa. âDu hast uns zur goldenen Hochzeit aus KostengrĂŒnden zwei SĂ€rge gezimmert! Du hast mir zum Geburtstag Parfum gekauft, das wie Klo-Reiniger gerochen hat! Auch das war in Ordnung! Du bist anstatt mit roten Rosen mit Friedhofsnelken am Muttertag vor mich getreten, auch okayâ, japste sie, âaber mir nun mit diesem Bild den Wink mit dem Zaunpfahl zu geben, das ist dass Allerletzte!â
Heinz-JĂŒrgen saĂ zusammengesunken im Sessel. âEs ist doch ganz anders. Du musst mich auch mal zu Wort kommen lassen.â
âAch so ist das! Der gnĂ€dige Herr fĂŒhlt sich von mir unterdrĂŒckt und unterjocht, weil ich ihn angeblich NIE ausreden lasse!â
Die Tochter besah sich das Bild. âHm. Eine Domina mit âner Ratte als Haustier empfĂ€ngt einen Kunden. Naive Malerei.â
Jetzt besah auch Heinz-JĂŒrgen sich das Bild. Er schlug die HĂ€nde ĂŒber den Kopf zusammen.
âGenau!â, keifte Marlies, âich muss wirklich naiv gewesen sein, mit diesem Mann Jahrzehnte Tisch und Bett geteilt zu haben! Nun fĂŒhlt er sich mir unterlegen! Sehe ich aus wie eine herrschsĂŒchtige Domina?â
âMutt, nun reg dich nicht so auf! Die Dame auf dem Bild sieht wirklich nicht aus wie du!â
âDie sieht aus wie Gertrud!â, flutschte es aus Heinz-JĂŒrgen heraus.
âWER IST GERTRUD?â
âGert! Gert! Der Maler aus dem Kurpark! Sein Nachname ist Rot. Der sieht so aus, wie der auf dem Bild! Hat immer so schöne bunte Wiesenblumen gezeichnet! Und nun sowas!â Heinz-JĂŒrgen wischte sich den SchweiĂ von der Stirn. âFĂŒr deine Frau, hat er gesagt. Ich habe das Motiv ĂŒberhaupt nicht gesehen, das Bild war doch eingepackt!â
âViel wert scheint es ja nicht zu seinâ, meinte die Tochter, âund aufhĂ€ngen wird Mutt es auch nicht.â Sie blickte Marlies an. âOder?â
Die schĂŒttelte vehement den Kopf.
âIch hatte vom Motiv wirklich keine Ahnungâ, sagte Heinz-JĂŒrgen entschuldigend und setzte sich zu seiner Frau auf die Couch. âIch fĂŒhle mich auch nicht unterdrĂŒckt.â Er nahm Marliesâ Hand und hauchte einen Kuss darauf.
âObwohlâ, Julia stand auf und beĂ€ugte ihr Eltern, âvon auĂen betrachtet, ich quasi als neutrale Person, ich finde durchaus, Mutt, dass du Paps so dann und wann bevormundest, er eher der Devote in eurer Ehe ist und du die Dominante.â
âRAUS!, riefen Marlies und Heinz-JĂŒrgen im Chor. âUnd das Bild kannst du mitnehmen!â