Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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vorgegebenes Bild | September 2014
Naive Malerei
von Anne Zeisig

Julia half ihrer Mutter Marlies beim Eindecken der Kaffeetafel.
“Du hĂ€ttest deinen Vater doch besser vom Bahnhof abholen sollen”, sorgte sich Marlies. “Er bringt es fertig und steigt in den falschen Bus ein.” Sie verteilte die Servietten.
“Ach Mutt, du machst dir unnötige Sorgen. Paps ist noch nicht senil. Der ist fĂŒr seine siebzig Lenze recht fidel.”
Ihre Mutter schĂŒttelte den Kopf. “Fidel? Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie er sich in der Stadt verlaufen hat, weil er eine ParfĂŒmerie gesucht hat?”
“Aber nun muss er doch nur aus dem Bahnhof raus und in die Linie Zwei einsteigen.”
Marlies blickte ungeduldig auf die Uhr. “Er mĂŒsste lĂ€ngst hier sein.”

* * *

Heinz-JĂŒrgen hievte seinen Koffer durch den engen Gang im Zug und außerdem hielt er in der Linken auch noch ein großes Bild. Die anderen FahrgĂ€ste waren nicht begeistert von seinem Ausstiegmanöver.

Das GemÀlde war ein Abschiedsgeschenk von Gertrud. Sie war ihm wÀhrend der Kur drei Wochen nicht von den Fersen gewichen und hatte sich selbst zu seinem Kurschatten benannt. SÀmtliche Versuche, dieser Dame zu entkommen, waren fehlgeschlagen.
Also hatte er sich mit der Situation arrangiert und das Beste daraus gemacht. Weil Gertrud motorisiert war, haben sie einige Ausflugsfahrten unternommen, die Gegend erkundet und auch der abendliche Tanz war dabei nicht zu kurz gekommen.
Bis um zweiundzwanzig Uhr, verstand sich.
Sie, ein PlappermĂ€ulchen, erzĂ€hlte viel von sich, dass sie bereits den dritten Ehemann ĂŒberlebt habe, und von ihrem Hobby, dem Malen. Da blieb es nicht aus, dass auch Heinz-JĂŒrgen von seiner langjĂ€hrigen, glĂŒcklichen Ehe mit Marlies berichtete, und von seinen HandwerkskĂŒnsten mit eigener kleiner Werkstatt im Garten.
“Und du bist nie fremdgegangen?”, wollte Gertrud, bereits recht vertraut mit ihm, wissen.
Heinz-JĂŒrgen schĂŒttelte den Kopf. “Das wĂ€re mir, organisatorisch betrachtet, viel zu aufwĂ€ndig und zu anstrengend gewesen. Außerdem liebe ich meine Frau.”
Sie saßen im Kurpark unter einer Linde.
Die Sonne tauchte die Wiesenblumen in ein helles Licht. Die Bienen machten sich emsig an den BlĂŒten zu schaffen.
Gertrud ergriff seine Hand. “Wo bitte mĂŒssen wir hier in der Kur etwas organisieren?”
Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und seufzte. “Ich könnte dich verwöhnen, wie du es vorher noch nie erlebt hast. Und was deine Gattin nicht weiß, macht sie nicht heiß.”
Er rĂŒckte seine Krawatte zurecht und ein wenig von Gertrud ab. “Versteh mi-hich, mich, ni-hicht, nicht falsch”, stotterte er, “aber auch Marlies ist mir stets treu geblieben.”
Sie lachte laut. “Kannst du dir da so sicher sein?” Wieder ergriff sie seine Hand. “Wir können doch auch mal was Neues fernab der Heimat ausprobieren. Ich liebe brave, solide MĂ€nner, wie du einer bist, denn unter einem sanften GemĂŒt brodelt bestimmt ein heißer Vulkan.”

* * *

Endlich war Heinz-JĂŒrgen samt Koffer und Bild aus dem Zug ausgestiegen. Er blickte suchend um sich.
Irgendwo musste es doch eine Möglichkeit geben, sich dieses Bildes zu entledigen, ohne dass es besonders auffiel. Er blickte halb amĂŒsiert, halb erschĂŒttert auf das rosa Einschlagpapier mit der pinkfarbenen Schleife darum.
“Ich hab ‘s fĂŒr dich gemalt. Nur fĂŒr dich. Weil ich meine, dass du eine Frau brauchst, die dir sagt, wo es langgeht, langgehen muss. Eine, die den Ton angibt”, hatte Gertrud gesĂ€uselt und sich eine TrĂ€ne abgetupft mit ihrem Spitzentaschentuch.
Dann schloss sich die ZugtĂŒr.

ZunĂ€chst wollte Heinz-JĂŒrgen das Bild einfach in der Zug-Toilette stehen lassen, aber es passte nicht hinein in diese Enge.
Dann hatte er sich kurz auf einen Sitz gesetzt, war aufgestanden und gegangen.
“Hallo! Sie haben was vergessen!” Ein junger Mann eilte mit dem Kunstwerk im Gang zu ihm und sagte entschuldigend. “Mein Opa vergisst auch mal ab und zu was.”
Also stand er wieder da mit diesem ungeliebten Geschenk.
Und wenn er es einfach dem unfreundlichen Schaffner ĂŒber den Kopf schlug? “Koffer UND SperrmĂŒll im Gang, das geht ĂŒberhaupt nicht!”
‘Und stramm stehen!’, hatte Heinz-JĂŒrgen gedacht, sagte aber, “Sie sind so nett, da will ich Ihnen gerne dieses Geschenk zukommen lassen.” DrĂŒckte es ihm in die Arme.
Der verdutzte Bahnangestellte setzte es abrupt ab, als könne er sich die HĂ€nde verbrennen und zischte, “Bestechung im Dienst, das geht ĂŒberhaupt nicht.”

Nun also irrte er auf dem Bahnhof umher und suchte das Klo. Alte Bahnhofstoiletten waren zwar schmuddelig, aber gerÀumig. Platz genug, dieses Bild in einer der Kabinen zu deponieren.
Er könnte auch die Damen in der Bahnhofsmission mit dem Kunstwerk beglĂŒcken, ĂŒberlegte Heinz-JĂŒrgen kurz, verwarf den Gedanken aber schnell.
Just in dem Moment, als er die Klinke herunterdrĂŒcken wollte, rief jemand.
“Paps! Hie-hier! Hie-hier bin ich!”
Plötzlich stand Julia keuchend neben ihm. “Du kennst ja Mutt. Sie hat darauf bestanden, dass ich dich abhole.” Sie nahm ihm das Bild ab. “Ein Geschenk fĂŒr Mutt? Oh, wie sĂŒĂŸ du das eingepackt hast! Da wird sie sich freuen.”
Ehe er antworten konnte, marschierte sie mit dem Bild unter ihrem Arm vorne weg. “Wir mĂŒssen uns beeilen, ich habe nur fĂŒr fĂŒnfzehn Minuten die Parkuhr gefĂŒttert.”

* * *

Es kam, wie es kommen musste!
NatĂŒrlich hatte Heinz-JĂŒrgen es nicht geschafft, sich das Bild aus dem Kofferraum zu schnappen, um es in seiner kleinen Gartenwerksatt zu verstecken.
Stattdessen drĂŒckte Marlies es an sich und gab ihm zum Dank einen dicken Schmatzer auf die Wange.
Julia goss den Kaffee ein.
Marlies riss die Verpackung auf, drehte und wendete das KunststĂŒck, wurde erst rot, dann blass, ihre Augen drohten aus den AugĂ€pfeln zu springen, als sie schrie: “So ist das also! So siehst du unsere langjĂ€hrige Ehe! Und ich habe immer gedacht, dass auch du glĂŒcklich bist!”
Marlies fiel rĂŒcklings auf das Sofa. “Du hast uns zur goldenen Hochzeit aus KostengrĂŒnden zwei SĂ€rge gezimmert! Du hast mir zum Geburtstag Parfum gekauft, das wie Klo-Reiniger gerochen hat! Auch das war in Ordnung! Du bist anstatt mit roten Rosen mit Friedhofsnelken am Muttertag vor mich getreten, auch okay”, japste sie, “aber mir nun mit diesem Bild den Wink mit dem Zaunpfahl zu geben, das ist dass Allerletzte!”
Heinz-JĂŒrgen saß zusammengesunken im Sessel. “Es ist doch ganz anders. Du musst mich auch mal zu Wort kommen lassen.”
“Ach so ist das! Der gnĂ€dige Herr fĂŒhlt sich von mir unterdrĂŒckt und unterjocht, weil ich ihn angeblich NIE ausreden lasse!”
Die Tochter besah sich das Bild. “Hm. Eine Domina mit ‘ner Ratte als Haustier empfĂ€ngt einen Kunden. Naive Malerei.”
Jetzt besah auch Heinz-JĂŒrgen sich das Bild. Er schlug die HĂ€nde ĂŒber den Kopf zusammen.
“Genau!”, keifte Marlies, “ich muss wirklich naiv gewesen sein, mit diesem Mann Jahrzehnte Tisch und Bett geteilt zu haben! Nun fĂŒhlt er sich mir unterlegen! Sehe ich aus wie eine herrschsĂŒchtige Domina?”
“Mutt, nun reg dich nicht so auf! Die Dame auf dem Bild sieht wirklich nicht aus wie du!”
“Die sieht aus wie Gertrud!”, flutschte es aus Heinz-JĂŒrgen heraus.
“WER IST GERTRUD?”
“Gert! Gert! Der Maler aus dem Kurpark! Sein Nachname ist Rot. Der sieht so aus, wie der auf dem Bild! Hat immer so schöne bunte Wiesenblumen gezeichnet! Und nun sowas!” Heinz-JĂŒrgen wischte sich den Schweiß von der Stirn. “FĂŒr deine Frau, hat er gesagt. Ich habe das Motiv ĂŒberhaupt nicht gesehen, das Bild war doch eingepackt!”
“Viel wert scheint es ja nicht zu sein”, meinte die Tochter, “und aufhĂ€ngen wird Mutt es auch nicht.” Sie blickte Marlies an. “Oder?”
Die schĂŒttelte vehement den Kopf.
“Ich hatte vom Motiv wirklich keine Ahnung”, sagte Heinz-JĂŒrgen entschuldigend und setzte sich zu seiner Frau auf die Couch. “Ich fĂŒhle mich auch nicht unterdrĂŒckt.” Er nahm Marlies’ Hand und hauchte einen Kuss darauf.
“Obwohl”, Julia stand auf und beĂ€ugte ihr Eltern, “von außen betrachtet, ich quasi als neutrale Person, ich finde durchaus, Mutt, dass du Paps so dann und wann bevormundest, er eher der Devote in eurer Ehe ist und du die Dominante.”
“RAUS!, riefen Marlies und Heinz-JĂŒrgen im Chor. “Und das Bild kannst du mitnehmen!”


©Anne Zeisig, END-Version

Letzte Aktualisierung: 26.09.2014 - 08.26 Uhr
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