Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Zunächst die Maus. Die Maus ist schuldlos in dieses Bild geraten. So sagt sie.
Warum zum Teufel mußte sie immer so gierig sein.
Sie wollte nur ein kleines Stück abbeißen vom goldgelben, duftenden Käse.
Blitzschnell rein und wieder raus – das war der Plan.
Der Käse duftete betörend. Aus dem kleinen wurde ein großes Stück.
Einen winzigen Moment zu lang verweilt, die Falle schnappte zu.
Sich aus dieser Situation befreien? Unmöglich.
Man kann nicht denken, wenn man mit vollen Backen kaut.
Die Maus ergab sich in ihr Schicksal und wartete auf den Besitzer des Gitterkäfigs.
Es war eine Besitzerin. Und sie hatte einen Knall – und zwar einen gehörigen, wie sich herausstellte.
***
Frau Roth betrachtete das Bild.
Sie dachte an Schafe, die vielen, die man nicht sah, die sich hinter der verschlossenen Tür drängten. Sind sie eingeschlossen? Oder sind sie ausgeschlossen von dem, was sie nur als Geräusche wahrnehmen
das klirren von ketten
das schnalzen einer peitsche
das keuchen einer megäre
das fiepen einer maus (?)
Die Schafe stehen dicht gedrängt hinter der verschlossenen Tür und zittern.
Die Geräusche machen ihnen Angst. Sie wissen nicht, ob sie sich befreien sollen, weil sie nicht wissen, ob sie gefangen sind. Und so einfach ist es nicht. Manche sind gezeichnet, manche nicht. Nicht alle sind ehrlich.
Frau Roth betrachtete das Bild.
Sie dachte an die Chefin, die ehemalige. Diese Ähnlichkeit, wie aus dem Leben gegriffen. Dieselbe Ausstrahlung, wie sie die abgebildete Rattenkönigin verströmt. Miasmen von Panik fraßen solide Regung von Widerstand ratzputz auf. Kompetente Versammlung von Erwachsenen mutierte zu tumber Herde verstörter, erschreckter Zombies.
Hirnlos. Mundtot. Unfähig, zu denken.
Obwohl die Chefin schon monatelang a.D. war, wurde Frau Roth durch die Erinnerung paralysiert.
Sie dachte an die Kollegen, die endlich wieder aufgeatmet hatten bei der täglichen Verrichtung ihrer Pflichten, die sich in Sicherheit wiegten.
Und jetzt dieses Bild.
Wetterleuchten der Zukunft.
Ein neuer Chef sollte endlich kommen.
So weit, so gut. Das mußte sein.
Aber wer war das noch, der ihr heute die Neuigkeit zugeflüstert hatte –
Ihr wurde kurz schwarz vor Augen ... ach ja, Frau Schwarz war das gewesen, die sah ja immer alles. Frau Schwarz die Seherin ...
Kurz und gut, die beiden, die alte Chefin und der zukünftige Direktor, waren gestern pikfein dinierend zusammen im Chez Micmac gesichtet worden, wie sie die Köpfe zusammensteckten. Sie redete wie ein Schnellfeuergewehr auf ihn ein, so daß die Spucketröpfchen nur so flogen, und er hing völlig gebannt an ihren Lippen, ihren Zähnen, ihren Brüsten, sog furchtsam die schleimige Milch der Hinterhältigkeit in vollen Zügen und ließ sich imprägnieren vom fauligen Gestank seiner Vorgängerin.
Und dieser Mann, solchermaßen präpariert, sollte nun ihrer aller neuer Leiter sein.
Shit happens.
***
Frau Roth legte das Bild beiseite.
Sie packte ihre Bücher zusammen, klappte das Notebook zu, verstaute das Protokoll einer Dienstzeit in ihrer Aktentasche.
(Ab durch die Mitte.)
Die neunschwänzige Katze begann zu summen.
Letzte Aktualisierung: 15.09.2014 - 08.36 Uhr Dieser Text enthält 3093 Zeichen.