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vorgegebenes Bild | September 2014

Rattenscharf
von Hajo Nitschke

Meiner Ansicht nach ist es besser, auf dem Pflaster Steine zu klopfen, als einer Frau zu erlauben, auch nur über deine Fingerspitze Gewalt zu bekommen
(Iwam S. Turgenjew in „Väter und Söhne“)


Ich habe so eine Ahnung, weshalb Ritas Kunde nackt auf ihrer Matratze liegt, mit Hand- und Fußschellen ans Bettgestell gefesselt und mit einem strammen Hanfseil um den Bauch sowie einem langen Tape um den Kopf fixiert. Rudi (seinen wirklichen Namen kennt Rita nicht) mag zwar schon Mitte Sechzig sein, verträgt solche Fesselungen dank seiner Zähigkeit aber mühelos. Ja, er braucht sie sogar. Ritas Klientel besteht fast nur aus Männern: heterosexuelle Böcke wie ich. Die guten Leute brauchen so dies und das: Uniformen für Rollenspiele, Masken, allerlei Werkzeuge zum Piesacken und mehr. Bei Rudi sind es die Fesseln.

Eine einfache Hausratte wie ich – im Alter von anderthalb Jahren – hält sich normalerweise aus solchen Dingen raus. Auch, wenn ich immer noch dazulernen muss – ich bin eine Ausnahme, weil Rita entscheidend zu meiner Bildung beitrug, indem sie mir, ihrem einzigen Mitbewohner, aus philosophischer und anderer Literatur vorlas. So bin ich inzwischen der Überzeugung, dass auch der Mensch eine Seele hat. Wie könnte es auch anders sein, wenn ich an Rita denke? Sie malt übrigens, wenn sie nicht gerade Kundschaft hat, oder schreibt Gedichte, die sogar veröffentlicht werden. Eines ihrer Gemälde ist gerade auf der Startseite eines Literaturportals zu besichtigen, wo mit zarten Pinselstrichen wir alle drei verewigt sind: ich selber als Hauptmotiv sowie Rita und Rudi..

Er ist pünktlich jeden ersten Montag im Monat zur Stelle und zahlt im Voraus. So auch diesmal. Rita empfing ihn wie gewohnt in Netzstrümpfen, hohen Stiefeln und rotem Latex-Body, der auf raffinierte Weise ihre Nippel entblößte. Rattenscharf, wie die Menschen das zu nennen pflegen.
Wenn etwas allerdings rattenscharf ist, dann meine Zähne, aber das nur nebenbei. Rita ließ sich von dem alten Bock die Hand küssen und stand da wie ein fleischgewordenes Bild menschlicher Erotik und Befehlsgewalt, dem man die Jahre nicht ansah. Ich wie immer auf ihrer Schulter, dem nachdenklichen Seitenblick Rudis durch emsiges Putzen meines Gesichts ausweichend.

Rita begann das Ritual. Zuerst befahl sie Rudi, sich zu entkleiden. Sodann musste er auf Befragen gestehen, dass er leider ein ganz Böser sei. Zur Strafe gab es Hiebe mit der Birkenrute auf Gesäß und Rücken. Angenehm stell ich mir das nicht vor, aber eigenartigerweise genießt er den Schmerz. Man kann das gut an diesem gewissen anatomischen Zuwachs beobachten. Komische Lebewesen, diese menschlichen Böcke! „Runter mit dem Dödel, du ungezogener Junge!“, blaffte ihn die 'Herrin', wie er sie nennt, an. Die Rute verschonte nun auch Rudis Genitalien nicht. Weil besagte Ausdehnung anhielt, Rita aber äußersten Wert auf Disziplin legt, fesselte sie den alten Sünder ans Bett.



Und dort liegt er noch immer. Tja, Rudi, man sieht sich im Leben immer zweimal. Er versteht mich natürlich nicht. Stiert mich nur an, Ruhig spinne ich die Gedanken weiter: Erinnerst du dich noch daran, was du mir angetan hast, als mein Käfig noch in deiner Wohnung stand, du Bastard? Von Rita weiß ich es: Kastrieren nennt ihr das, was du mit mir gemacht hast. Nicht selber, aber du hast den Auftrag dazu gegeben. Nur, weil ich dir angeblich zu aggressiv war. Aber dass das nur die Folge deines eigenen bösartigen Verhaltens war, hast du nicht kapiert. Dabei war ich schon immer ein besonders menschenliebes Exemplar meiner Gattung.

Nein, auch die Komplikationen nach dem Eingriff werde ich dir nicht vergessen und dass ich irgendwie … nicht mehr derselbe war. Oder dass du mir nie genug Nahrung gabst, so dass ich mehr als einmal fast verhungert wäre. Gut, ich wurde andererseits etwas ruhiger und ausgeglichener, aber wir waren seither endgültig Feinde, das wird jeder verstehen. Als ich dich ganz gelassen, aber mit Nachdruck in den Finger biss – mehr war im Käfig nicht möglich –, kam ich zu Erika, die mich wiederum ihrer Freundin schenkte. Und so wurde Rita meine neue Besitzerin ...



Es war wie immer. Zwei geschlagene Stunden lag Rudi schon rücklings in seinen Fesseln, mit gespreizten Armen und Beinen. Die Herrin zog ihm ab und zu wie spielerisch eins über, diesmal mit einem Rohrstock, und stieß routiniert einige Beschimpfungen und Drohungen aus. Ansonsten blätterte sie in ihrer Lektüre, eilte hierhin und dorthin, goss sich in der Küche einen hinter die Binde oder erledigte ihre einschlägigen dienstlichen Geschäfte telefonisch, mich immer im Gefolge. Dabei unterschieden sich die Sprüche in Inhalt und Tonfall nur unwesentlich von ihrer Standardbotschaft für Rudi.

Dessen Zeit war fast um, als Rita noch schnell mit einem Ich-muss-mal-eben-Pipi ins Studio-WC huschte und die Tür hinter sich schloss. Ich hörte sie pinkeln, aber mittendrin tat es plötzlich ein gewaltiges Gepolter, gefolgt von Porzellangeschepper: Ein krachender Schlag gegen die Klotür und dann Stille. Das war gestern Nachmittag. Darüber ist es Nacht geworden und draußen beginnt es zum zweiten Mal zu dunkeln. Was mag dir bloß zugestoßen sein, arme Rita?! Wie sehr würde ich unser zärtliches Schmusen vermissen. Aber wenn das deine Bestimmung sein sollte … Manche Geschäfte bringen eben Geld, manche den Tod.



Na, du Kleintierschinder? Erkennst du mich jetzt? Etwas geahnt hast du inzwischen sicher schon. Ja, genau, ich bin es, dein alter Freddy, hihi. – Du rufst zum tausendsten Mal nach Rita, aber ich glaube, die kann dich nicht mehr hören, Rudi. Und auch außerhalb des schallisolierten Erotikstudios hört dich niemand. Keiner vermisst dich, den alleinstehenden Rentner, so viel weiß ich vom Hörensagen, auch, dass Rita für die nächsten Wochen alle Termine wegen einer Auszeit abgesagt hat.

Ach, wie süß: jetzt sogar das Codewort für den Abbruch. Selten dumm! Das verfängt bei mir sowieso nicht. Wie sollte es auch? Selbst, wenn ich wollte: Rita hat die Schlüssel mitgenommen. Die Toilettentür besteht wie alle Türen hier aus Leichtmetall. Das erzeugt bei der Kundschaft zusammen mit den vergitterten Fenstern den gewünschten Eindruck, von Rita eingekerkert zu sein, hat aber den Nachteil, dass ich mich nicht zu ihr hindurchnagen kann ...

Paradoxe Situation: da will jemand hilflos einem Anderen ausgeliefert sein und an Schmerzen sein Vergnügen finden. Und dann kreischt er wie ein Wahnsinniger, nur weil ich ihn schon mal probeweise in eine der beiden Kügelchen unter seinem geschrumpften Zipfel zwicke. Irgend was muss ich falsch machen. – Hast wohl Durst, was? Ich nicht, denn mein Trinknapf ist im Gegensatz zur Fressecke noch gefüllt. Entsprechend quält mich starker Kohldampf. Ritas Studio ist extrem zweckmäßig eingerichtet, da gibt es für mich nichts zum Knabbern.



Gott hat der Ratte die Erde anvertraut, damit sie sich Letztere untertan macht. Ich weiß, dass uns Ratten damit Verantwortung für alle Geschöpfe auferlegt ist. Auch für die Menschen. Keiner dieser Spezies soll leiden, nur weil ich mich vergesse. Allerdings werde ich ohne Nahrung verhungern – ein ethisches Dilemma, das eine Güterabwägung erfordert. Ergebnis: ich will weder in Rudis Nähe noch überhaupt wieder hungern, nie mehr.

Inzwischen habe ich mich auf Rudis Gesicht niedergelassen, da half ihm kein Protest und kein Winden. Die Spürhaare kitzeln seine Nase. Durch die Klotür hindurch empfange ich einen ganz schwachen Geruch. So schwach, dass ihn in diesem frühen Stadium nur eine Ratte wahrnehmen kann: Adé, Rita! Meine Zunge prüft die vorderen Schneidezähne. Immer noch scharf, brauchen sie Arbeit. Mir knurrt gewaltig der Magen, wenn ich mir so deine herausquellenden Augen besehe, Rudi. Und da wir Ratten keine Vegetarier sind ...



@ Hajo Nitschke, V3

Letzte Aktualisierung: 16.09.2014 - 08.20 Uhr
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