Liebesgeschichten ohne Kitsch? Geht das? Ja - und wie. Lesen Sie unsere Geschichten- Sammlung "Honigfalter", das meistverkaufte Buch im Schreiblust-Verlag.
WeiĂt du, was ich vergangene Nacht getrĂ€umt habe? Ich trĂ€umte, ich wĂ€re in der Mittleren Schlappohrei. Hast du davon schon einmal gehört? Nein? Ich vorher auch nicht. Der Name klingt zwar so Ă€hnlich wie östliche TĂŒrkei oder Innere Mongolei. Diese Gebiete könnte ich dir in meinem Atlas oder auf dem Globus zeigen. Die Mittlere Schlappohrei liegt aber ganz wo anders. Dahin kann man nicht gehen, nicht fahren und auch nicht fliegen. Dahin muss man sich schon trĂ€umen.
Als ich in diesem seltsam schönen Land ankam, schien dort wunderbar hell und mild die Sonne. Ich stand auf einer groĂen Wiese in zartblauem Gras und schaute mich neugierig um. Die BĂ€ume sind dort ganz anders als bei uns. Einige tragen Kronen, die lustigen violetten FederbĂŒscheln Ă€hneln, andere wieder sehen aus wie riesengroĂer grĂŒner Blumenkohl. Und noch andere strecken lange gelbe Wedel in die Luft, die gigantischen MohrrĂŒbenblĂ€ttern gleichen.
Ach ja, und Blumen gibt's da, wie ich sie bei uns noch nie gesehen habe, mit schwarzweiĂ karierten BlĂŒten zum Beispiel, aber auch mit solchen, die so knallbunt schillern wie ein Regenbogen. Ich hörte Vögel, die zweistimmig singen konnten und sah ein paar rosafarbene Hasen mit niedlichen hellblauen RingelschwĂ€nzchen. Die veranstalteten am Waldrand einen Wettbewerb im RĂŒckwĂ€rtshĂŒpfen. Das sah ganz besonders lustig aus.
Von dem Platz, an dem ich stand, konnte ich weit ĂŒber Felder und WĂ€lder sehen, die sich auf und zwischen sanften HĂŒgeln ausbreiteten. In einem kleinen Tal, rechts von mir, standen einige HĂ€user. Sie waren wie Kugeln und hatten runde Fenster. Ihre quittengelben DĂ€cher sahen aus wie groĂe ZitronenhĂ€lften. Ganz oben quoll dĂŒnner, blauweiĂ gestreifter Rauch heraus. Der wehte zu mir herĂŒber und duftete zart nach Marzipan.
Das also war die Mittlere Schlappohrei. Du wunderst dich, woher ich das wusste? Ich nicht. Ich habe lĂ€ngst aufgehört, mich in meinen TrĂ€umen zu wundern. DafĂŒr passieren einfach zu viele seltsame Dinge darin.
WĂ€hrend ich mich noch begeistert in dieser zauberhaften, fremdartigen Landschaft umsah, kamen aus dem nahen WaldstĂŒck zwei seltsame Wesen in langsamem Watschelgang auf mich zu. Sie waren kaum gröĂer als du. Ihre kugelrunden Körper sahen fast wie BĂ€lle aus. Sie hatten ganz kurze, stĂ€mmige Beine und breite PlattfĂŒĂe. Auf ihren krĂ€ftigen HĂ€lsen saĂen Köpfe, die unseren menschlichen recht Ă€hnlich sahen. Nur wurden die freundlichen Gesichter von ein paar bis auf die Schultern herabhĂ€ngenden, mit wuscheligem Fell bewachsen Ohren eingerahmt. Das waren zwei der Bewohner, von denen dieses wundersame Land seinen Namen hat.
Das eine Schlappohr trug eine Art Pullover aus pinkfarbenem Samt und ein grĂŒnweiĂes seidenes Beinkleid. Das war ihm offenbar viel zu lang. Es bauschte sich ĂŒber den PlattfĂŒssen so stark, dass es fast aussah, als wĂŒrde das kugelige Kerlchen auf kleinen StoffbĂ€llen gehen, anstatt auf Beinen. Zwei breite, kreuzweise angebrachte HosentrĂ€ger hielten das eigenartige KleidungsstĂŒck; denn so etwas wie HĂŒften hatte das runde Wesen nicht.
âGuten Schlappohrtagâ, sagte es. âHerzlich willkommen in der Mittleren Schlappohrei. Mein Name ist Schlaumeier, und das hier ist Frohpeter.â Damit stellte es sich und seinen Begleiter vor, der nicht minder putzig angezogen war. Frohpeter steckte in einer Strumpfhose, die aus fingerdicken hellgelben SchnĂŒren gestrickt zu sein schien. DarĂŒber trug er ein weites dunkelblaues Hemd, das in vielen kleinen Zipfeln endete. Sein Gesicht strahlte nur so vor Heiterkeit.
âSchön, dass du endlich mal zu uns gekommen bistâ, fuhr Schlaumeier mit warmer, freundlicher Stimme fort. âDu bist doch der, der Geschichten und Gedichte schreibt, nicht wahr?â Seine klugen Augen funkelten mich zwischen vielen LachfĂ€ltchen an.
âJa, der bin ichâ, antwortete ich, nun doch ein wenig erstaunt. âAber woher kennt ihr mich?â
âAchâ, sagte nun Frohpeter, âwir wissen sehr vieles ĂŒber dich und ĂŒber viele andere Menschen. Aber ihr habt so gar keine Ahnung von uns. Und das ist sehr, sehr schade.â Er bewegte bedauernd seinen Kopf, sodass die langen Ohren hin und her flogen wie bei einem Spaniel, wenn er sich das Wasser aus dem Fell schĂŒttelt.
âNa, das wird sich aber jetzt Ă€ndernâ, versprach ich. âEs ist ja so herrlich hier bei euch und so wundersam. NatĂŒrlich werde ich meinen Mitmenschen ĂŒber euch und euer Land berichten, sobald ich wieder zurĂŒck bin. Ist doch klar!â
âOh ja, tu das bitte!â, bat Schlaumeier. âWie schön wĂ€re es, wenn mehr von euch Menschen hierher kommen wĂŒrden, vor allem natĂŒrlich die Kinder. Es ist doch ganz leicht, sich woanders hin zu trĂ€umen, wie du heute gemerkt hast. Und schlieĂlich kann man sich seine TrĂ€ume ja aussuchen. Wir Schlappohren tun es fast jede Nacht.â
âAch, so einfach ist das fĂŒr uns Menschen leider nichtâ, entgegnete ich seufzend. âWir können nicht einfach bestimmen, was wir im Schlaf erleben möchten. Wir mĂŒssen die TrĂ€ume nehmen, wie sie kommen, ob schön oder hĂ€sslich. Leider.â
Frohpeters lustiges Gesicht nahm jetzt einen fragenden Ausdruck an. âJa habt ihr denn gar keine TraumbĂ€ume, die ihr um schöne TrĂ€ume bitten könnt?â, wollte er unglĂ€ubig wissen.
âNeinâ, antwortete ich. âJedenfalls habe ich noch nie von solchen BĂ€umen gehört.â
âDas kann doch wohl nicht wahr sein!â Schlaumeier riss seine pfiffigen Augen ganz erstaunt auf. âDie gibt es doch ĂŒberall auf der Welt. Warum sollten sie ausgerechnet in eurem Land nicht vorkommen. Wahrscheinlich habt ihr nur noch nie danach gesucht.â
âWie sollten wir wohl nach etwas suchen, von dem wir gar nicht wissen, dass es existiert?â, gab ich zu bedenken. âWie sieht denn ĂŒberhaupt so ein Traumbaum aus, wo wĂ€chst er, und wie kann man sich von ihm TrĂ€ume wĂŒnschen?â, wollte ich wissen.
Frohpeter lachte: âDas kann ich dir genau erklĂ€ren. Der Baum steht immer an einem Waldrand, nie im Innern eines Waldes, doch auch nie ganz allein im Feld. Er hat einen hellbraunen, sehr glatten Stamm und dunkelgrĂŒne, fast kreisrunde BlĂ€tter mit ganz zarten, feinen Adern. Und in seinem Laub rauscht es Tag und Nacht ganz leise, so als wolle er uns am liebsten gleich die vielen interessanten Geschichten zuflĂŒstern, die er weiĂ. Hast du solch einen Baum noch nie gesehen?â
Ich dachte eine Weile darĂŒber nach, welcher der vielen, vielen BĂ€ume, die ich in meinem Leben schon gesehen habe, wohl ein Traumbaum gewesen sein mochte. Aber ich kam nicht drauf.
âIch weiĂ es nicht. Aber ich werde mich schon morgen danach umsehen, werde solange alle WaldrĂ€nder in der Umgebung absuchen, bis ich einen Traumbaum findeâ, versprach ich. âUnd dann werde ich ihn bitten, mir viele schöne TrĂ€ume zu senden.â
âHalt, halt!â Schlaumeier hob den rechten Zeigefinger. âSo einfach ist das mit dem Bitten nicht. Wenn du einen Traumbaum gefunden hast, musst du dich unter seine Zweige stellen und einen magischen Vers aufsagen, den Traumspruch. Wenn dann das Rauschen der BlĂ€tter stĂ€rker wird, hat der Baum dich verstanden, und du kannst dir einen Traum wĂŒnschen.â
âDann sag mir, bitte, schnell diesen Vers, damit ich ihn auswendig lernen kannâ, bat ich das Schlappohr. Schlaumeier nickte ernsthaft mit dem Kopf, und seine langen, wuscheligen Ohren schaukelten vor und zurĂŒck.
âAlso, pass auf!â, begann er. âDer Spruch lautet:
âAufstehn! Marsch, aus dem Bett, du Faulpelz! Es ist bald acht.â
Ich rieb mir verdutzt die Augen. Das war doch nicht der Traumspruch! Das war auch nicht mehr die Stimme des Schlappohrs. Ich lag plötzlich in meinem eigenen Bett. Die Sonne schien hell durch das Schlafzimmerfenster herein, und vor mir stand meine Frau, die Arme in die HĂŒften gestemmt, um mich zu wecken. Ich hatte nĂ€mlich wieder mal verschlafen.
Leider machte sie mich ausgerechnet in dem doch so wichtigen, entscheidenden Augenblick wach, als Schlaumeier gerade Luft holte, um mir den magischen Vers beizubringen. HÀtte sie doch ein paar Minuten gewartet, dann könnte ich ihn dir jetzt weitersagen. Wie sollen wir nun wohl ohne ihn in Zukunft an die schönen TrÀume kommen?
Also ich gehe heute ganz bestimmt besonders frĂŒh ins Bett. Vielleicht gelingt es mir ja noch einmal, im Schlaf zu den freundlichen Schlappohren zu kommen. Ich muss doch unbedingt wissen, was man zu einem Traumbaum sagen muss, wenn man ihn findet.
Willst du mir dabei nicht helfen? Versuch doch einfach, dich auch in die Schlappohrei zu trĂ€umen, in die Mittlere Schlappohrei, versteht sich. Wenn du hinkommst, grĂŒĂ bitte Schlaumeier und Frohpeter schön von mir, dem Schreiber. Frage sie unbedingt nach dem Traumbaum und vor allem nach dem Spruch, der all die schönen TrĂ€ume bringt. Und morgen frĂŒh rufst du mich dann gleich an. Ich stehe im Telefonbuch. Tust du mir den Gefallen? Ja? Bitte, bitte!
Also, dann schlaf jetzt ein. Aber mach schnell! Ich bin ja so neugierig auf deinen Anruf.
Gute Nacht!
Letzte Aktualisierung: 20.10.2014 - 15.34 Uhr Dieser Text enthält 8958 Zeichen.