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Traumzeit | Oktober 2014

Der Besuch
von Gerhard Fritsch

Nils und Sasski kamen vom Feld oberhalb der Wohnsiedlung. Der morgendliche Spaziergang näherte sich seinem Ende. Die letzten dreihundert Meter führten erst über eine geteerte Sackgasse und dann den geplätteten Bürgersteig entlang. Gegenüber einem unbebauten Grundstück kam der Mann mit dem Schäferhund entgegen. Wie üblich brachte der Hund seinen Missmut darüber deutlich zum Ausdruck, während Sasski mehr oder weniger nur andeutete, mit gleicher Münze heimzuzahlen. So wie immer halt, ganz normal. Noch schnell Guten Morgen gesagt und ein paar Worte mit dem Nachbarn gewechselt, der um diese Zeit schon die Straße kehrte, bogen Nils und Sasski in die Hofeinfahrt ein und stiegen die Treppe zur Haustüre hoch, die neben der ebenerdigen Garage nach oben führte.
Die Überraschung war groß, als Nils sah, wer zu Besuch gekommen war: seine Schwester, der Schwager und die beiden Kinder, 15 und 17 Jahre alt, saßen auf der großen grünen Ledercouch, die gerade noch so in die Nische gleich neben dem Eingang passte. Nils‘ Frau und seine eigenen Kinder hatten sich ebenfalls dazugesellt. Nachdem er die Gummistiefel ausgezogen hatte, setzte auch er sich dazu. Schwester und Schwager waren ohne Ankündigung gekommen, was ungewöhnlich war, da sie eine Fahrt von mehr als 300 Kilometern auf sich hatten nehmen müssen. Wie waren sie überhaupt hergekommen? Ihr Auto hatte er vor dem Haus nicht gesehen.
Kaum, dass sie die üblichen Begrüßungsfloskeln ausgetauscht hatten, entwickelte sich ein Streitgespräch zwischen Nils und seinem Schwager, der in Sachen sanitärer Hausinstallationen etwas anderer Meinung war als Nils. Beide brachten durchaus einleuchtende Argumente bzw. gerechtfertigte Einwände in die Diskussion ein, doch nur Nils’s Schwester gelang es, das Thema zu wechseln und darauf hinzuweisen, dass sie eigentlich gekommen waren, um im Stadtwald die sogenannten Magnetfelder aufzusuchen, denen heilbringende Wirkung nachgesagt wurde. Alle erinnerten sich auf einmal wieder an dieses Vorhaben und machten sich für den Aufbruch bereit. Nur Nils musste sie noch um eine Minute Geduld bitten, denn er wollte neue Strümpfe anziehen, weil die, die er vorher anhatte, nass geworden waren. Schnell ging er ins Schlafzimmer, aber dummerweise fand er sie nicht gleich. Irgendwie waren die Möbel umgestellt worden und er fand die Socken erst nach einigem hektischen Suchen an einer Stelle, an der sie noch nie aufbewahrt worden waren. Als er wieder aus dem Zimmer herauskam, erschrak er sehr. Es war totenstill in der Wohnung, alle waren weg, noch nicht einmal der Hund lag in seinem Körbchen. Rückblickend gestand er sich ein, dass alles, seitdem er das Haus betreten hatte, nicht so war wie es hätte sein sollen: die übergroße Couch, der unvermittelte Besuch und die umgestellten Möbel im Schlafzimmer. Angst überkam ihn. Er wusste jetzt, dass er geträumt haben musste, und zwar einen Klartraum, so einen, wie er vor ein paar Jahren schon einmal hatte.
Damals wusste er im Traum schon, dass er träumte, woraufhin er, wenn auch schweißgebadet, sofort aufgewacht war. Jetzt aber hatte er den Übergang vom Träumen in den Wachzustand nicht wahrgenommen. Er eilte ins Badezimmer, um in den Spiegel zu sehen. Ja, er war er selbst, er sah sich, wie er immer war. Und er tastete sich ab und konnte sich fühlen.
Doch irgendetwas stimmte nicht. Alles in der Wohnung war zwar wieder am richtigen Ort, nur war niemand da, weder seine Frau noch seine Kinder noch der Hund. Er versuchte sich zu erinnern, ob sie weggegangen waren, doch ihm fiel nichts ein. Nils ging in die Garage. Das Auto war da, aber das Tor war offen. Auf der anderen Straßenseite stand ein Bekannter. Nils ging zu ihm und fragte ihn, ob er seine Frau gesehen habe. Zusammen gingen sie zu einem älteren, renovierungsbedürftigen Bungalow am Ende der Straße, der zum Verkauf stand. Das Haus stand seit vielen Monaten leer, jetzt aber schien es voller Leben zu sein. Schon am Eingang traf er zwei Freunde, die er seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Sie waren in rote Umhänge gehüllt, solche, wie sie buddhistische Mönche tragen. Sie sagten Nils, er solle mal im Swimmingpool schauen, dort glaubten sie seine Familie gesehen zu haben.
Der Pool, dessen Becken etwa 4 mal 6 Meter maß, war wider Erwarten mit frischem, klaren Wasser gefüllt, und darin tummelten sich mindestens 60 Menschen, Männer ebenso wie Frauen und Kinder. Alle waren nackt, selbst das 80jährige Rentnerehepaar aus der Nachbarschaft. Nils‘ Frau war nicht darunter, aber zwei junge Mädchen, die die Glastüre aufschoben, ihn anlächelten und kichernd in den Garten hinausgingen, erregten seine Aufmerksamkeit. Sexuelle Begierde ergriff Besitz von ihm. Nils konnte nicht anders, schnell eilte er ebenfalls nach draußen und sah die beiden Mädchen gerade noch in einem großen Tor verschwinden, das in eine geradezu riesige Fabrikhalle führte, die dort eigentlich gar nicht hätte stehen dürfen. Die Halle war erfüllt von monotonem Maschinenlärm, aber es waren nirgends Arbeiter zu sehen, nur die Mädchen tauchten bald hier und bald da auf, um sich sogleich wieder zu verstecken. Erneut drang die Gewissheit in Nils‘ Bewusstsein, dass er träumen müsse. Doch er wünschte sich, jetzt nicht aufzuwachen. Gerade aber, als er so dachte, erschienen die beiden Schönheiten, eine von rechts, die andere von links hinter den Maschinen hervortretend, direkt vor Nils. Sie sahen aus wie Zwillinge, doch indem sie seitwärts zueinandertraten, verschmolzen die beiden Gestalten zu einer einzigen, die jetzt noch wunderbarer, noch attraktiver und noch erregender auf Nils wirkte. Sie winkte ihn zu sich und Nils gewahrte, dass sich ihre Gesichtszüge veränderten und mehr und mehr der Angebeteten seiner Jugendzeit glichen. Er streckte seine Hände nach ihr aus, um sie in die Arme zu nehmen. Das Lächeln des Mädchens aber wich aus ihrem Gesicht und nachte einer besorgten Mine Platz, denn sie wurde von einer imaginären Kraft von Nils weggezogen.
„Sie ist nur ein Scout, Dummkopf“, ermahnte ihn eine metallische Stimme. „Küsse sie nur, dann wirst Du nie mehr in dein Leben zurückkehren können.“ Das Mädchen, dessen Erscheinung verblasste und sich immer weiter entfernte, wehklagte und streckte Nils ihre Hände entgegen. Wieder erkannte Nils, dass er sich nicht in der realen Welt befand, doch er konnte seinen Trieb, dem Mädchen zu folgen, nicht bändigen. Instinktiv wusste er, dass er dazu seinen Widersacher niederringen musste. Er hatte ihn bisher nicht gesehen, jetzt aber materialisierte er und baute sich vor ihm auf. Es war kein Mensch und auch kein Tier, es war eine Konstruktion aus Stein und Eisen, die entfernt an eine Gottesanbeterin erinnerte. „Auch wenn Du es nicht glaubst“, sprach sie erneut zu ihm, „aber ich bin deine Verbündete. Kehre jetzt um, es ist deine letzte Chance.“
Nils fing an zu zittern. Er fühlte, dass sie recht hatte. Er schloss die Augen und sah sich selbst mit Sasski die Treppe zu seinem Haus heraufkommen. An der Türe vereinigte er sich mit seinem Doppelgänger und sah seine Schwester, den Schwager und deren Kinder ihm von der Straße aus zuwinken. Sie stiegen in ein Fahrzeug, das halb im Nebel steckte und waren bald darauf nicht mehr zu sehen.
Die Wohnung war leer und viel größer als gewohnt, geradezu riesig, so dass er das Ende des Flurs nicht sehen konnte. Er rief nach seiner Frau und den Kindern, aber er hörte nur den Hall seiner eigenen Stimme. Im Dunkel der Wohnung bewegte sich etwas. Die überdimensionale Gottesanbeterin kam auf ihn zu. Ihre erbarmungslosen Augen durchdrangen ihn. Nils verfiel in Panik. Wach auf, wach auf, drängte er, das ist ein Traum. Und in diesem selben Augenblick schellte der Wecker. Schweißgebadet richtete er sich auf, schaltete das Licht an und sah seine Frau neben ihm im Bett liegen.
Nils hatte nicht nur einen Klartraum gehabt. Er war in diesem Traum ein zweites Mal eingeschlafen und in eine noch tiefere Traumebene abgesunken.*
*Vergleiche dazu auch „Die Kunst des Träumens“ von Carlos Castaneda.

Letzte Aktualisierung: 21.10.2014 - 19.39 Uhr
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