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Traumzeit | Oktober 2014

Die andere Seite
von Ingo Pietsch

Der Traum, den Richard Dalton gerade erlebte, kam ihm, wie die anderen Träume der letzten Zeit, sehr real vor.
Vor ihm auf der Blumenwiese stand seine große Liebe Megan und lächelte ihn an.
Sie hatte die fein geschnittenen Züge einer jeglichen englischen Lady, die Richard in seinem jungen Leben kennengelernt hatte - aber das unbändige Temperament ihres Vaters.
Megan winkte ihn zu sich heran. Blüten flogen überall vom Wind getragen.
Hinter ihr, in weiter Ferne, prangte der Ayers Rock - Uluru, wie ihn die Einheimischen nannten. Mit jedem Schritt, den Richard auf Megan zuging, schwebte sie zurück und der Uluru kam näher.
Das übergroße Gesicht seines Vaters tauchte am schwarzen Himmel auf und verdeckte den Berg und sogar Megan und die Wiese waren verschwunden.
Richards Vaters Grinsen verwandelte sich in ein höhnisches Lachen.
Richard hielt sich einen Ellbogen schützend vor die Augen und stürzte in ein Nichts.
Schließlich landete er hart auf dem Boden seines Schlafzimmers.
Schweißgebadet zog er sich am Bettpfosten hoch. Er atmete mehrmals durch und packte seine Sachen. Er wusste jetzt was er zu tun hatte.

Während Richard die große Freitreppe herunterschlich, rief er sich die Träume der letzten Woche ins Gedächtnis.
Alles hatte angefangen, als Richard seinem Vater die Liebe zu Megan gestanden hatte.
Der Lord hatte Megan angeschrien und sie aus dem Haus verbannt. Schon seit ihrer Ankunft hatte er ihr eingebläut, sich von seinem Jungen fern zu halten.
Sie war in die Wildnis geflohen und seitdem hatte niemand mehr etwas von ihr gehört.
Draußen war es noch dunkel und Richard hatte die halbe Treppe schon hinter sich gelassen, als er das Klacken des Stockes seines Vaters vernahm. Es war ein einmaliges Stück. Der Schaft aus dem Horn einer Oryx-Antilope und der Knauf war ein faustgroßer Bernstein in dem eine kleine Schlange eingeschlossen war.
Der Lord stand unten mit zornigem Gesicht. „Geh zurück in dein Bett!“, befahl er.
„Nein, Vater, das werde ich nicht. Ich liebe sie und ich werde sie suchen gehen.“ Der sechzehnjährige ging ein paar Stufen weiter.
„Sie ist ein Halbblut. Eine Aborigini-Hexe. Sie sieht aus wie wir, aber in ihr kocht das Blut dieser Wilden. Sie ist die Tochter einer Freundin und nur weil sich mich darum bat, durfte sie hier wohnen, fern ab jeder Zivilisation, aber nicht um dich mir wegzunehmen.“
„Sie heißen Anangu. Und sie sind keine Wilden, sonst hättest du ja nicht so viele angestellt, damit sie sich dich bedienen und deine Felder bearbeiten.“
„Dafür sind sie gut genug und ich bezahle sie ausreichend dafür.“, entgegnete der Lord.
„Sie sind Sklaven und du ihr Halter!“, warf ihm Richard an den Kopf.
„Pass auf, wie du mit mir redest!“, schrie er zurück.
Richard schüttelte den Kopf. „Ich werde jetzt durch diese Tür gehen und Megan suchen, ob es dir gefällt oder nicht.“
Der Lord senkte den Kopf und atmete tief durch. Als sein Sohn ihn passierte sagte er schließlich mit schwacher Stimme: „Tu, was du tun musst. Aber kehre niemals zurück!“
Richard sah sich noch einmal zu seinem Vater um. Tränen rannen ihm über das Gesicht, dann verließ er das Haus.

Richard ritt immer der Sonne entgegen. Der Uluru leuchtete blutrot im Sonnenaufgang.
War es richtig, was er tat?
War die Liebe zu Megan stärker als jegliche Blutsbande?
Immer wieder hörte er eine Stimme in seinem Kopf, die rief: „Komm zu mir!“

Gegen Abend erreichte er die Ausläufer des Berges. Er zündete ein Feuer an und machte sich ein Lager für die Nacht bereit.
Sein Pferd war die ganze Zeit schon unruhig und tänzelte hin und her.
„Was hast du denn?“, fragte Richard. Er streichelte die Flanke des Tieres und leuchtete mit einem brennenden Holzscheit im Unterholz herum. Hier gab es Schlangen und Skorpione. Aber außer seltsamen und verwitterten Spiralen und Tieren, die auf kleine Feldsbrocken gemalt waren, entdeckte er nichts.
Richard führte das Tier näher an das Feuer heran. Langsam beruhigte es sich wieder.
Der junge Mann legte sich zum Schlafen nieder und fing sofort zu träumen an: Megan hielt seine Hände und ihre Stirn berührte die seine.
„Ich danke dir, dass du zu mir gekommen bist. Ich werde dich jetzt leiten. Nimm meine Hand!“
Richard sah ihr in die Augen und küsste sie. Sie war nur zwei oder drei Jahre älter als er, aber sie wirkte um ein vielfaches reifer. Ihr Haar wehte in einem nicht vorhandenen Wind.
Ein unheimliches grünes Glühen umgab sie und erhellte ihnen den Weg.
Der Mond war hinter dunklen Wolken verschwunden und nur die Grillen zirpten.
Wie in Trance folgte Richard seiner Geliebten, die ihn an der Hand hinter sich herzog. Er wusste nicht, ob er wach war oder träumte.
Sie gelangten an einen völlig zugewucherten Höhleneingang. Ohne Mühe schlüpften sie hinein, als bestünden ihre Körper aus Luft.
Nach ein paar Schritten hörte Richard seinen Vater rufen: „Richard, wo bist du? Ich verzeihe dir! Nur komm zurück zu mir!“
Richard zögerte. Megan hob sein Kinn und er blickte in ihre grün leuchtenden Augen: „Ich werde dich nicht zwingen, aber du dich musst entscheiden!“
Er schloss die Augen. „Weiter!“
Sie lächelte ihn an.
Richard drehte sich um und sah einen Fackelschein die Wände erhellen. Das gelbliche Licht wandelte sich in orange-golden.
„Richard, wir müssen uns beeilen. Der Stock deines Vaters ist gefährlich. Ich bin mir nicht sicher, ob er das weiß.“
Sie kamen in eine Sackgasse. Auf die unregelmäßige Wand war eine Spirale gemalt. Megan zog die Linie von außen nach innen nach und sie begann grün zu pulsieren.
„Los“, sagte sie und zog ihn durch die massive Wand. Wie durch einen Wasserfall gehend verschwanden sie darin und tauchten sogleich auf der anderen Seite wieder auf.
Richard musste seine Augen schließen, so grell war das Licht der Sonne. Als er sie wieder öffnete war er gelähmt von dem Anblick des Landes, der sich ihm bot. Es war so fremd, hatte mit dem Australien, das er kannte nichts mehr gemeinsam. Tiere, die er noch nie zuvor gesehen hatte, bizarre Pflanzen und Bäume. Menschenähnliche Kreaturen.
„Willkommen in der Traumwelt!“
Richard drehte sich noch einmal um. Auch hier gab es die Spirale, doch das Glühen erlosch gerade wieder.
Hand in Hand gingen die beiden Verliebten über das saftige Grün.

Der Lord war seinem Sohn mit einer Kutsche gefolgt. Er kam gerade an dem Feuerplatz an, als ein geisterhaftes Wessen seinen Sohn durch ein Gestrüpp zog.
Dalton Senior zündete eine Fackel an und folgte den beiden.
Vor sich, im Höhlengang, entfernte sich das Leuchten.
„Richard, wo bist du? Ich verzeihe dir! Nur komm zurück zu mir!“ Ein Luftzug löschte seine Kerze und jetzt erst bemerkte er, dass der Bernstein leuchtete. Die Schlange darin schien sich zu winden, obwohl die es nicht wirklich tat. Der Lord wollte den Stab davonschleudern, aber er packte ihn nur noch heftiger. Der Stein schien ihn mit sich zu ziehen, bis er vor einer Höhlenwand ankam. Eine Spirale war darauf gemalt. Ohne sich dessen bewusst zu sein, tippte der Lord mit dem Stein gegen das Rund und es wellte sich wie Wasser. Er trat in die Wellen hinein ...

Einhundertfünfzig Jahre später
Zwei Männer mit wettergegerbten Gesichtern und Armeekleidung mit sandfarbenen Tarnmuster schlugen mit ihren Macheten Büsche und Sträucher klein.
„Das ist schon die achtzigste Höhle oder so. Ich habe keinen Bock mehr!“
„Ich auch nicht. Aber wir sollten unseren Boss lieber nicht enttäuschen.“ Der andere zog mit seinem Finger eine Linie über seine Kehle.
„Los, vielleicht haben wir diesmal Glück!“ Sie schalteten ihre Helmlampen ein.
„Hoffentlich sind hier keine Fledermäuse. Ich habe mir das letzte Mal fast in die Hosen gemacht.“
„Stell dich nicht so an. Komm!“
Sie folgten dem Gang und kamen in eine Sackgasse.
„Was zum ...?“
„Los, mach ein paar Fotos!“ Der eine machte mit einer Kamera Bilder. Das Blitzlicht erhellte die Spirale an der Wand und alles andere.
Der zweite zog Hammer und Meißel aus seinem Gürtel und begann das Antilopenhorn aus der Wand zu schlagen.
Daneben hingen Stofffetzen. Ein halber blanker Totenschädel, eine rechte Schulter, ein halber Arm und ein rechtes Bein hingen aus der Wand heraus, als wäre derjenige direkt hineingegangen und damit verschmolzen.
Es dauerte nicht lange, bis der Mann den Stock mit dem Bernstein freigelegt hatte. Der Stein war immer noch in dem eisernen Griff einer skelettierten Hand. Der Mann riss sie ab und wollte den Stock gerade in einem Rucksack verstauen, als ein Schaufelblatt seinen Kopf zur Seite warf und er ohnmächtig zusammenbrach. Seinem Kompanion erging es genauso.
Christian Laubner und Rebecca Schulz, Kollegen aus einem Museum in Deutschland*, wischten sich die Hände sauber.
„Der Anangu hatte recht mit seiner Geschichte. Und die haben uns sogar die Arbeit abgenommen. So, nichts wie weg hier!“, sagte Christian.
Rebecca nickte.
Als sie am Eingang ankamen, pfiffen ihnen Kugeln um die Ohren.
Bei ihrem Jeep stand ein weiteres Fahrzeug und dort befand Issak Goldstein, der den Stab haben wollte.
„Und wieder einmal ward ihr schneller. Los, her damit und ich lasse euch gehen!“
„Das glauben Sie ja selber nicht.“ Christian lugte noch einmal um die Ecke. Auf einem Felsen stand eine Person, die einen langen Stock hielt, ein Anangu, der alles beobachtete. Wahrscheinlich der Mann, der ihnen alles über den Stab erzählt hatte. Er schüttelte den Stock, als freue er sich.
„Rebecca, es bleibt uns nur ein Weg. Zurück in die Höhle! Vielleicht funktioniert dieser Stein noch.“
„Und wenn wir auch in der Felswand steckenbleiben?“ Rebecca hatte Angst.
Christian erwiderte nichts.

An der Spirale tippte Christian mit dem Stein gegen die Mitte. Das Gebilde warf Wellen.
„Was haben wir schon zu verlieren?“, meinte Christian. Sie hielten die Luft an und sprangen hinein ...

* siehe: Der heilige Gral

Letzte Aktualisierung: 26.10.2014 - 16.57 Uhr
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