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Traumzeit | Oktober 2014

Meine Welt?
von Marcel Porta

Der Sack, den sie mir über den Kopf gezogen haben, stinkt nach Erbrochenem. Ich muss mich beherrschen, sonst kommt es mir hoch. Gegessen habe ich schon lange nichts mehr, außer Magensäure fände nichts den Weg nach draußen. Ich muss mich zusammenreißen!

Ich kann nichts sehen. Das liegt nicht an dem Sack über meinem Kopf, sondern an den zusammengeklebten Augen. Mit aller Gewalt versuche ich, die Lider auseinanderzureißen. Die Schmerzen machen mich fast wahnsinnig. Als es mir endlich gelingt, dringen Sonnenstrahlen wie Pfeile in mein Gehirn.
Meine Arme und Beine sind gefesselt. Ich stehe aufrecht, festgebunden an etwas Hölzernem. Da ich den Kopf bewegen kann, schaue ich mich um. Links ist ein Abgrund, dessen Endlosigkeit mich erschreckt, rechts sehe ich in einer endlosen Reihe Holzstöße, auf denen Pfähle errichtet sind. An jedem steht ein Mensch. Alle sind nackt, Männer wie Frauen. Ich selbst auch, wie ich jetzt entdecke.

Entsetzen befällt mich und ich will schreien, doch meine Zunge ist mit Rasierklingen besetzt, die mir den Gaumen zerschneiden. Blut sammelt sich in meinem Mund. Ich schlucke es und verätzte mir den Schlund.
Auch wenn ich nicht schreien kann, mein Gehör funktioniert hervorragend. Geschrei nähert sich von links und lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich schaue angestrengt in diese Richtung und sehe einen Hund heranpreschen. Er ist größer als ein Pferd und sein Schwanz steht in Flammen. An jedem Holzstoß wedelt er mit seinem Feuerschwanz und setzt ihn in Brand. Die Schreie der Menschen dringen mir in den Kopf wie Gabeln, drehen sich und wickeln das Gehirn auf. Es fühlt es sich an, als würde mein Ich in Stücke gerissen.

Rasend schnell kommt der Hund näher. Ein Dobermann vermute ich, mit Hunden kenne ich mich nicht aus. Ich hasse sie zu sehr, sie tun einem furchtbare Dinge an. Trotz der wütenden Gabel in meinem Kopf kann ich glasklar denken und schreckliche Erinnerungen überfluten mich.

Das Schnauben des Riesenhundes kommt näher. Als er direkt neben mir steht und in meine Richtung schaut, sehe ich seine gelben, blutunterlaufenen Augen. Sie blicken mich ausdruckslos an, ich bin ihm völlig gleichgültig. Mit einer lässigen Bewegung legt er seinen brennenden Schwanz neben meine Füße und setzt das Holz in Flammen. Qualm steigt auf. Ich bekomme kaum noch Luft. Die Hitze steigt nur langsam, die Atemnot ist schlimmer. Mit tränenden Augen sehe ich, wie die Bestie sich in den Abgrund stürzt. Jetzt hat das Feuer meine Füße erreicht. Es gibt nur noch die Qualen, die mich durchrasen.

„Wer bist du, und warum schreist du so?“ Die Stimme klingt sanft und einfühlsam.
„Ich verbrenne! Bei lebendigem Leib!“, brülle ich zurück.
„Das bildest du dir nur ein.“
„Nein! Hilf mir!“
„Du musst dir selber helfen. Mach einfach einen Schritt nach vorne.“
„Es geht nicht, ich bin an einen Pfahl gefesselt.“
„Eine Illusion! Du bist hier, liegst auf einem Bett und träumst.“

Mit übermenschlicher Anstrengung gelingt es mir, einen Schritt nach vorne zu tun. Sofort hören die Schmerzen auf und ich spüre das Laken, auf dem ich liege. Erleichterung durchflutet mich.
„Sag mir, wer ich bin“, frage ich.
„Ich kenne dich nicht, hab dich nur schreien hören. Ein Albtraum?“
„Es war so verteufelt real! Kannst du mir sagen, wo ich hier bin?“
„Du bist in Sicherheit. Hier gibt es keine Scheiterhaufen.“
„Gott sei Dank“
„Siehst du!“
„… doch halt! Was hast du gerade gesagt?“
„Dass du in Sicherheit bist.“
„Nein, ich meine über Scheiterhaufen.“
„Es gibt hier keine.“
„Woher weißt …? Ich habe doch gar nichts …“
„Zweifelst du? Dann kann ich keine Garantie übernehmen.“
„Garantie wofür?“
„Wo du als Nächstes landest.“
„Was soll das bedeuten? Wer bist du?“
„Fragen über Fragen, langsam verliere ich die Lust, mich mit dir abzugeben. Das hast du jetzt davon!“
„Was habe ich wovon?“
…
„He, bist du noch da? Antworte!“

Panik wächst in mir heran wie Bambus im Regen. Wenn es nur nicht so verdammt finster wäre. Ich kann nicht mal die Finger vor meinen Augen erkennen. Mit zitternden Händen taste ich die nähere Umgebung ab.
Als ich den Rand des Bettes erreiche, beuge ich mich hinaus und prüfe, ob es einen Grund gibt. Nicht dass ich ins Bodenlose stürze, wenn ich es wage, das Bett zu verlassen. Der Fußboden scheint mir solide. Dennoch erhebe ich mich mit äußerster Vorsicht. Wer weiß, ob er mein Gewicht trägt.

Mit ausgestreckten Armen und vorsichtig mit einem Fuß tastend, wage ich einige Schritte. Als ich eine Wand erreiche, bewege ich mich daran entlang. Ich hoffe, es gibt eine Tür, damit ich dieser Dunkelheit entrinnen kann.

Fast hätte ich die winzigen Risse nicht bemerkt, ich kann sie mehr erahnen als ertasten. Die Klaustrophobie hat mich fest im Griff, ich kann nicht weitersuchen - entweder komme ich an dieser Stelle raus oder gar nicht. Ich ertaste die Umrisse eines Rechtecks. Mit aller Kraft drücke ich in der Mitte dagegen, die Adern am Hals werden dick wie Stränge und die Augen treten fast aus den Höhlen, doch ich erreiche nichts.
In wilder Verzweiflung hämmere ich unkontrolliert mit den Fäusten und schreie mir die Seele aus dem Leib. Die Knöchel sind längst blutig, doch ich verspüre keinen körperlichen Schmerz - der seelische ist viel zu groß.

Meine Kräfte erlahmen, und völlig verzweifelt stehe ich vor der Wand. Ich bin verloren! Hier komme ich nie wieder raus. Schon verspüre ich unerträglichen Durst. Das werde ich nicht durchstehen! Mit voller Wucht schlage ich in selbstmörderischer Absicht meinen Kopf gegen die Wand …

Ein Wunder geschieht. Da ist keine Wand mehr, Helligkeit umflutet mich und ich stehe auf einer abschüssigen Wiese. Ich schaue mich um, aber da ist kein Haus. Nur Blumenwiese, so weit ich sehen kann. Die Sonne knallt vom Himmel, und sofort bricht mir der Schweiß am ganzen Körper aus. Ich bin immer noch nackt und meine Haut ist ungeschützt. Es juckt unerträglich. Erste Quaddeln bilden sich, platzen auf und verbreiten einen üblen Gestank. Die Sonne ist nicht unsere alte, bekannte Lebensspenderin. Aggressiv ist sie. Mit jeder Minute wird der Durst größer. Ich muss hier weg, sonst überlebe ich keine Stunde mehr.

Mit dem Mut der Verzweiflung stolpere ich vorwärts, irgendwohin, einen Anhaltspunkt gibt es nicht. Nur Öde um mich herum. Das Gras verwelkt in rasendem Tempo.
Eine halbe Stunde torkle ich vor mich hin. Ein Flimmern erscheint links vor mir. Die Luft scheint dort zu zirkulieren. In Ermangelung eines besseren Ziels wende ich mich in diese Richtung. Je näher ich der Stelle komme, desto größer wird ein Widerstand, den ich nicht sehen oder ertasten kann. Jeder Schritt wird zur Qual, ich kann die Füße kaum noch vom Boden heben. Es ist, als sollte ich nicht dorthin gehen. Doch welche Alternative habe ich? Auch wenn ein schneller Tod mich erwartet, alles ist besser, als hier zu verdursten.
Mit aller noch verbliebenen Kraft werfe ich mich nach vorne und verliere das Bewusstsein.

„Herr Sillenbuch, können Sie mich verstehen?“
Ich höre Laute, ahne nur, was sie bedeuten.
„Hallo, öffnen Sie die Augen, wenn Sie wieder bei sich sind.“
Es ist eine Frauenstimme. Ich beginne zu verstehen, was sie sagt. Also versuche ich, die Lider zu heben. Es fällt mir unendlich schwer. Zum Glück ist das Licht gedämpft, ich kann es gerade noch ertragen. In meinem Kopf dröhnt es, als habe jemand eine riesige Glocke unmittelbar neben meinem Ohr angeschlagen.
„Wir haben Sie ans Bett gefesselt, Herr Sillenbuch. Sie haben versucht, sich mit einer Gabel das linke Auge auszustechen. Haben Sie verstanden?“
Die Fesseln spüre ich, jetzt, da ich von ihnen weiß. Sofort befallen mich Wut und Panik. Das darf man nicht mit mir machen! Ich habe nichts Böses getan, bin ein artiges, liebes Kind. Ich werde nichts verraten. Man muss mich nicht bestrafen, ich werde alles tun, was man mir sagt!
Wie von Sinnen reiße ich mit Händen und Füßen an den Fesseln. Sie schneiden ins Fleisch, doch ich habe keinen Erfolg.
„Nun geben Sie doch Ruhe, Sie tun sich nur weh. Ich darf Sie nicht losbinden.“
Erst als die Kräfte mich verlassen, gebe ich auf. Immerhin kann ich jetzt die Augen offen halten und sehen, wer mit mir geredet hat. Eine junge Frau, kaum auf die Welt gekrochen. Und doch ist sie die Herrin. Ich bin das Opfer. Rebellion nützt nichts, also werde ich es mit Unterwürfigkeit versuchen. Ich werde versprechen, ruhig liegen zu bleiben, wenn sie mich losbindet. Im Schmeicheln bin ich gut, diese Überlebensstrategie habe ich gelernt!

„Ich werde …“, beginne ich den Satz. Doch die Buchstaben werden zu Würmern, die sich gegenseitig auffressen. Ich beginne von vorne.
„Ich werde dir die Haut in Streifen aus dem Mistloch reißen, du Fotze, Katzen müssen das Klavier ertragen, sonst gibt es kein Geschmiere an den Wänden. Die Heizung ist zu heiß, Matrose, gib mir einen Kuss, du Sau.“
Die Würmer haben mich entdeckt und bekriegen sich nicht mehr gegenseitig. Sie verbeißen sich in meiner Haut. Hunderte sind es und es werden ständig mehr.
„Helfen Sie mir!“, schreie ich so laut ich kann. Wenn diese Frau mir hilft, werde ich sie lieben alle Tage.
„Mein Schwanz verbrennt, du Nelkeneintopf. Gleich ist er tot in Not und Brot, wälzt sich im Kot das fette Boot.“
Es ist zum Verzweifeln, kein vernünftiger Satz, so sehr ich mich auch bemühe. Resigniert lasse ich mich zurückfallen.
„Gut, dass sie endlich ruhig liegen bleiben, Herr Sillenbuch. Ich werde Ihnen etwas zu trinken geben. Sie müssen durstig sein.“
Flügel wachsen ihr, als sie die Schnabeltasse an meinen Mund hält. Ich lasse die köstliche Flüssigkeit in mich hineinlaufen. Zufrieden lalle ich sinnlose Worte, als die Tasse leer ist.
„Er hat sich beruhigt“, höre ich jetzt ganz deutlich ihre Stimme.
„Wie lange war er denn weggetreten?“, erklingt eine zweite Stimme aus dem Hinterhalt.
„Zwei Stunden, aber das ist es sicher noch nicht gewesen.“
„Hm, bleib bei ihm, auch wenn er katatonisch wird.“
Die letzten Worte wirken seltsam verschwommen, als müssten sie erst einen Filter passieren. Als würde die Zeit sich strecken und dehnen. Und dann verstehe ich gar nichts mehr. Verstehe nichts mehr. Gar nichts! Wo ist meine Welt? Wo?!

Letzte Aktualisierung: 06.10.2014 - 22.57 Uhr
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