Diese Seite jetzt drucken!

Traumzeit | Oktober 2014

Das zuckersüße Geheimnis der alten Habicht
von Aileen Meyns

»Sind Sie sicher, dass es kein Traum war?«
Er blickte die alte Dame skeptisch an. Sie ließ Zucker in ihre Kaffeetasse rieseln. Eine Prise zuviel, wie er fand. Nachdenklich rührte sie ihren Kaffee um. Er musterte ihr zerzaustes silbernes Haar, es sah ungepflegt aus. Rasch wandte er seinen Blick ab. Außer dem Silberlöffel, der beim Rühren gegen das Innere der Tasse schlug, war es still in dem Haus.

Aufgelöst, hatte die alte Habicht ihn am Morgen angerufen und um Hilfe gebeten. Noch hatte er keine Ahnung wie er ihr behilflich sein konnte. Sie war eine Freundin der Familie und hatte ihnen in der Zeit, als Petzolds Vater krank wurde, immer zur Seite gestanden. Im Gegenzug, hatte Petzold ihr versprochen da zu sein, wenn sie Hilfe benötigte. Schon immer hatte er in ihrer Gegenwart ein unbehagliches Gefühl. Denn ein Jahr nach dem Tod seines Vaters, tauchte ihr Gesicht plötzlich in der Zeitung auf. Es hatte sich in ihrem Haus ein tödlicher Unfall ereignet, weshalb sie einige Wochen für Gesprächsstoff hier auf dem Land sorgte. Doch Petzold hatte ein mulmiges Gefühl, was dieses Thema betraf. Er vermutete, dass sie etwas verheimlichte.

»Sie müssen mir glauben. Es passiert jede Nacht.«
Nervös blickte sie auf ihre Hände und drehte an dem goldenen Ring, den sie an ihrer linken Hand trug.
»Wissen Sie, ich habe lange gezögert Sie anzurufen und um Hilfe zu bitten...«, sie schloss für eine kurze Zeit die Augen. »ER macht mir Angst«, flüsterte sie und sah sich panisch um, als würde sie sich vergewissern wollen, dass niemand sonst in diesem Raum war. Sie machte einen gequälten Gesichtsausdruck und für einen Augenblick, bekam er fast Mitleid mit Habicht.
»Sie haben doch sicherlich mitbekommen, was damals passiert ist...?«
Sie sah ihn prüfend an. Er wusste, was die Medien über den Unfall berichtet hatten, aber er glaubte nicht an einen Unfall. Er räusperte sich und fuhr sich mit einer Hand durch sein pechschwarzes Haar.
»Ich denke, jeder hier auf dem Land weiß es«, sagte er absichtlich zweideutig.
»Was genau macht Ihnen Angst, Frau Habicht?«
Sie beugte sich nach vorn und kam unangenehm nahe.
»Wenn ich nachts aufwache, steht er an dem Bett«, flüsterte sie ihm ins Ohr und ein Schauer überkam ihn bei der Vorstellung. Die Gänsehaut breitete sich auf seinem gesamten Körper aus. Es brauchte keinerlei Erklärung, von wem sie redete.
»Hören Sie Frau Habicht, manchmal spielt uns das Gehirn einen dummen Streich, wenn wir uns in einer Phase des Schlafes befinden, wo wir kaum zwischen Realität und Traum unterscheiden können...«
»Ich kann sehr wohl unterscheiden was echt ist und was nicht«, schleuderte sie ihm beleidigt entgegen. Er atmete tief durch und nahm sich vor, die Sache anders anzugehen. » Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Bestätigen Sie mir, was ich sehe. Das ER nachts hier ist.«
Wieder flüsterte sie.
Obwohl es offensichtlich war, fragte er trotzdem: »WER?«
»Heinrich, mein Mann.«
Sie sah ihm direkt in die Augen.
»Sie haben versprochen mir zu helfen ... Sie helfen mir doch, Herr Petzold?«
»Nun, wissen Sie ... ich habe die letzten Nächte nicht sehr gut geschlafen und ... «
Seufzend verdrehte die alte Habicht die Augen und hob anschließend eine Hand, um ihn zu unterbrechen.
»Davon habe ich reichlich«, sagte sie und klopfte sanft auf die Kaffeekanne, die neben dem Zuckerstreuer auf dem Tisch stand.
»Ihr Vater wäre nicht begeistert zu hören, dass Sie mir bei so einer Kleinigkeit nicht helfen möchten...«
»Eine Nacht«, sagte er knapp und ärgerte sich, dass die alte Habicht seinen Vater als Argument gegen ihn einsetzte.
»Eine Nacht«, wiederholte sie erfreut, nahm den Zuckerstreuer und ließ erneut großzügig Zucker in ihre Tasse rieseln. Beim Anblick, des weißen Haufens in der Tasse, wurde ihm übel. Er hasste süßen Kaffee. Petzold versuchte sich seine Anwiderung nicht anmerken zu lassen und blickte auf seine Armbanduhr. Stehengeblieben. Genervt klopfte er mit seinem Zeigefinger auf das Glas.

Lautes Schnarchen umgab ihn. Petzold saß steif auf dem unbequemen Klappbett und schaute der alten Dame beim Schlafen zu. Sie lag auf der linken Seite des Ehebetts, während die rechte leer und nicht bezogen war. Leise prasselte der Regen an das Schlafzimmerfenster. Im Haus hingegen war es unheimlich still und finster. Die einzige Lichtquelle im Raum war die Kerze auf dem unbenutzten Nachttisch der rechten Bettseite.
Ungeduldig sah er wie gewohnt auf seine Armbanduhr und verblüfft stellte er fest, dass die Zeiger sich wieder bewegten. Er hielt sein Ohr an die Uhr, hörte jedoch kein Ticken. Seltsam, dachte er. Es war mittlerweile 23 Uhr und keine Spur von Heinrich in Geistergestalt.
Er erinnerte sich an den Zeitungsartikel, den er über den Unfall in diesem Haus gelesen hatte. Heinrich sollte die Kellertreppe hinunter gestürzt sein und sich das Genick gebrochen haben. Zu dem Zeitpunkt stand der Keller der Habichts unter Wasser und der alte Mann war seinem Genickbruch sei dank nicht mehr in der Lage seinen Kopf aus dem Wasser zu heben und ertrank. Doch Petzold war sich sicher, dass es kein Unfall war, sondern Absicht.

Rums. Petzold fuhr erschrocken zusammen. Ein lautes Scheppern durchbrach die Stille. War hier jemand im Haus? Sein Herz raste und leise stand er aus dem Bett auf. Auf Zehenspitzen schritt er zu der angelehnten Schlafzimmertür. Der lange Flur war dunkel und er konnte nichts sehen. Er nahm die Kerze vom Nachttisch und leuchtete damit in den Flur. Nichts. Es war niemand zu sehen oder zu hören.
Vorsichtig schlich er auf den Flur. Die Dielen unter seinen Füßen knarrten bei jedem Schritt und er stellte fest, dass er unmittelbar vor dem Scheppern kein Knarren gehört hatte. Wer auch immer hier im Haus war, er war nicht über diesen Dielenboden gegangen. Am Ende des Flurs waren zwei geschlossene Türen. Er steuerte auf die linke zu, die ein Sichtfenster hatte und Petzold wusste, dass dahinter die Küche sein musste.
Der Weg zur Küche kam ihm ewig lang vor und er betrachtete seine Umgebung ganz genau. An den Wänden hingen alte Fotos, die immer wieder einen kräftigen jungen Mann in Marine-Uniform zeigten. Petzold tippte auf Jugendfotos von Heinrich Habicht. Die Fotos waren um einen großen antiken Spiegel verteilt. Flüchtig blickte er in seine müden Augen, die mit dunkeln Rändern umrandet waren. Entsetzt stellte er fest, dass seine sonst so schwarzen Haare, von grauen Strähnen durchzogen war. Er sah auf einmal schrecklich alt aus. Er sah aus...wie sein Vater! Ihm wurde leicht schwindelig und sein Spiegelbild verschwamm. Verwirrt nahm er Abstand zu seinem eigenen Antlitz, stellte die Kerze auf dem kleinen Tisch unter dem Spiegel ab und trat mit einem letzten Schritt auf die Küchentür zu.
Er spähte durch das Fenster. Es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Er sah keine Bewegung. Gerade umfasste er die Türklinke, als die Tür neben ihm ruckartig zugezogen wurde. Er hielt in der Bewegung inne. Was zum Teufel..? Hier war tatsächlich jemand im Haus! Petzold war sich sicher, dass die Tür eben bereits geschlossen war. Völlig durcheinander fragte er sich was hinter der Tür auf ihn wartete. Urplötzlich wurde es wieder totenstill in dem Haus. Er versuchte ganz genau hinzuhören, doch sein Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass es ihn beinahe wahnsinnig zu machen drohte. Sein Herz pochte wie wild, doch er nahm all seinen Mut zusammen, ging zu der anderen Tür und drückte die Klinke herunter. Er stemmte sein gesamtes Gewicht gegen die Tür, war überwältigt von dem Schwung, den er deutlich unterschätzt hatte und stolperte hinein. Er dachte, er stürzte auf den Boden, jedoch war es viel schmerzhafter. Vor ihm lag eine Treppe, die hinab führte. Ungebremst prallte er auf die harten Stufen auf und verlor völlig die Orientierung, nicht zuletzt, weil es stockdunkel war. Mit den Armen versuchte er sein Gesicht zu schützen, doch seine Reaktion kam zu spät. Mit voller Wucht schlug sein Kopf auf eine Stufe auf und das laute Knacken durchzog seinen gesamten Körper.
Ihm blieb die Luft weg und er versuchte mit aller Kraft zu atmen. Dann hatte der Sturz endlich sein Ende gefunden und er war unten angekommen. Regungslos lag er auf dem Boden. Sein Körper fühlte sich taub an. Er versuchte erneut tief einzuatmen und zog das bitter schmeckende Wasser ungewollt in seine Luftröhre. Er keuchte und geriet in Panik, als er feststellte, dass er im Wasser gelandet war. Er versuchte seinen Kopf zu heben, doch er spürte ihn nicht mehr. Er bekam keine Luft mehr.

Plötzlich schlug er die Augen auf. Schlaftrunken versuchte er sich zu orientieren und stellte fest, dass er nicht in seinem Schlafzimmer war. Das wohlige Schnarchen der alten Dame schleuderte ihn zurück in die Realität. Er musste eingeschlafen sein. Noch leicht benommen sah er auf seine Armbanduhr 02:55 Uhr stand auf der Digitalanzeige. Moment mal! Digitalanzeige? Langsam dämmerte ihm, was er die ganze Zeit schon ahnte. Er startete einen letzten Realitätscheck und hielt sich die Nase zu um dadurch einzuatmen. Es gelang ihm und er wusste, er war in einem Klartraum, ein Traum, in dem man sich bewusst ist, zu träumen. Petzold war sich sicher, dass er noch immer träumen musste und soeben ein falsches Erwachen erlebt hatte. Das fehlende Ticken der Uhr, das Spiegelbild, die geschlossene Tür, die Digitalanzeige, das Nasezuhalten waren alles Realitätschecks. Er besaß ab sofort die Macht über seinen Traum und konnte ihn steuern.
Der einzige Ausweg war, sich selbst aufzuwecken. Er ging zur Kellertür die seltsamerweise offen stand, nahm Anlauf und sprang mit offenen Armen in die Finsternis...

Letzte Aktualisierung: 27.10.2014 - 20.15 Uhr
Dieser Text enthält 9663 Zeichen.


www.schreib-lust.de