Diese Seite jetzt drucken!

Traumzeit | Oktober 2014

Hoch hinaus mit KarL
von Maria Soulas

Sie würde zu spät kommen. Ungeduldig sah Liselotte auf die Uhr. Endlich öffnete sich die Aufzugtür. Sie hätte früher aufstehen müssen. Oder weniger Zeit auf ihr Outfit verwenden. Oder auf die Haare. Jetzt fehlte nur noch ein kleiner Stau und sie würde mitten in die Konferenz platzen. Ausgerechnet heute!
Liselotte sprang fast in den Fahrstuhl und wollte auf ‚Tiefgarage‘ drücken, als ihr eine behandschuhte Hand zuvorkam. Extravaganter Silberschmuck zierte sämtliche Finger, die aus schwarzen halboffenen Lederhandschuhen herauslugten. Ungläubig wanderte ihr Blick von dieser Hand über den Ärmel zu einem eleganten taillierten Jackett. Das weiße Hemd bildete einen Kontrast zum Schwarz des Anzugs und der Krawatte. Der extrem hohe, steife Kragen sah äußerst unbequem aus. Ihr Blick verharrte an diesem Kragen, bis sie es wagte, zu ihm aufzusehen. Unverkennbar sein Gesicht! Das leuchtend weiße Haar zurückgebunden. Die große Sonnenbrille, das Lächeln nur als Ahnung auf seinen, für einen Mann ungewöhnlich vollen Lippen. Die Unterlippe scheinbar leicht vorgeschoben.
„Man gewöhnt sich daran. Meine Kragen sind die Antwort auf den Gummizug, der die Welt erobert hat. Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren. Das wird mir nie passieren. Ich habe meinen Stil für mich gefunden. Es ist nicht Chanel. Das ist das, was ich selbst gern anziehe. Bei Männermode habe ich eher Kundenmentalität.“
Erschrocken sah Liselotte ihn an. Hatte sie etwa laut gesprochen? Sie deutete ein Nicken an. Am liebsten würde sie sich räuspern, bevor sie versuchte, ein Wort herauszubringen. An einer langen Kette um seinen Hals hingen zwei Ringe. Aber was konnte sie überhaupt sagen zu jemandem wie ihm?
„Die Eheringe meiner Eltern. Ich trage sie immer.“ Er nahm die Ringe kurz in die Hand. „Journalisten schreiben das gern. Aber was sollen die auch schreiben, wenn ihnen nichts einfällt. Mir fällt immer etwas ein. Ich könnte denen sogar ihre Artikel schreiben. Ich hasse Wiederholungen. Wer sich wiederholt, ist am Ende.“
Diesmal war Liselotte sich sicher, dass sie nichts gesagt hatte. Seit einer gefühlten Ewigkeit stand sie reglos in der Ecke des Aufzugs. Über der Tür leuchtete der Pfeil nach oben. Aber sie fuhren schon entschieden zu lang, um nicht längst in der obersten Etage angekommen zu sein. Sie würde sich definitiv verspäten.
„Chloé. Schön ausgewählt.“ Er hatte Liselottes schwarz-weißes Top sofort erkannt, obwohl es fast vollständig vom Blazer verdeckt war. „1972. Das hätte ich so nie kombiniert. Sehr interessant!“ Er nickte anerkennend, “ich trage heute auch Givenchy“, während er ihre nachgeschneiderte Jacke begutachtete. „Think pink but never wear it!“
Liselotte dachte an die Zitate von Audrey Hepburn, die überall in ihrer Wohnung hingen. I believe in pink klebte über dem Schminkspiegel. Deshalb hatte sie die Givenchy-Jacke in Pink nachgenäht.
“Ich würde gern bei meiner Pink-Meinung bleiben“, er seufzte, „aber was kann man schon gegen Audrey Hepburn sagen. Außer: Sie hat sich für Givenchy entschieden.“ Er sprach wie in den Fernseh-Interviews. Schnell und präzise, mit diesem leicht französischen Akzent. „Das“, eine rasche Geste beschrieb ihr gesamtes Outfit, „haben Sie wohl selbst?“ Durch die Schnelligkeit der Bewegung schienen die legendären 24 Ringe eine Art Silberschweif hinter sich her zu ziehen. „Guter Blick fürs Detail, besser als diese chinesischen Kopien.“
Sie fragte sich, ob er sie wohl anzeigen würde, weil sie seine Entwürfe nachgenäht hatte. Wenn sie nur endlich ein Wort über die Lippen brächte! Unsicherheit und Einschüchterung nahmen ihr die Luft zum Atmen. Irgendetwas musste ihr doch einfallen.
„Lassen Sie nur. Ich werde permanent angesprochen. Rund um die Uhr. Keine Pause. Das ist akustische Umweltverschmutzung. Und stupide. Schweigende Menschen sind eine wahre Wohltat.“ Er betrachtete ihre Schuhe. „Eine Hommage an die Lieblingsschuhe von Mademoiselle. Très Coco! Die Models haben oft so große Füße. Da sieht alles nicht so, na Sie wissen schon. Es gibt doch jetzt diese neuen OPs. Aber, man kann ja niemanden zwingen.“
Liselotte würde dies vielleicht für ihren verrücktesten, unglaublichsten Traum halten, wenn dieser Mann nicht so real und unverwechselbar vor ihr stünde.
„Neben meinem Bett habe ich immer einen Skizzenblock. Meine besten Kollektionen habe ich im Morgengrauen im Traum gesehen und nach dem Aufwachen direkt aufgezeichnet.“ Aus seiner Jackettasche förderte er eine lange goldene Kette zutage und schlang sie doppelt um ihren schwarzen Tüllrock. „Prêt-à-porter!“
Liselotte schloss die Augen und sah den Rock vor sich, wie er im Modemagazin abgebildet war. Chanel 1992. Obwohl der Aufzug sehr groß war, konnte sie bei jeder seiner Bewegungen einen schwachen Duft wahrnehmen. Sehr angenehm. Kein typisches Männerparfum.
„Guerlain. Ich liebe diese alten Düfte. Ich benutze sie nur als Raumspray. An mir riecht es wie Pipi. Parfum darf generell nie auf die Haut gesprüht werden, nur auf Möbel und Kleider.“ Er trat einen Schritt zurück. „Ich muss diesen Look haben für mein Buch KarL in the Street. - Was macht Mode mit Frauen und was machen Frauen mit Mode? Weltweit kaufen nur 200 Frauen Haute Couture. Aber was ist mit den Millionen Frauen, die sich auch jeden Tag anziehen! Natürlich zeige ich keine Bloggerinnen. Das langweilt mich. So aufdringlich.“
Er zückte eine Kamera und begann, sie zu fotografieren. „Nicht posen. Seien Sie einfach Liselotte!“ Er griff nach ihrem Arm, legte ihre Hand auf die Hüfte, bedeutete ihr, sich halb zu drehen, den Kopf ein wenig in die andere Richtung, ein wenig gesenkt, ein wenig über die Schulter. Im Spiegel konnte sie sehen, dass alles, was er mit ihr anstellte, schmeichelhaft aussah. „Über Ihre berühmte Namensvetterin schreibe ich mein nächstes Buch.“ Immer wieder drückte er auf den Auslöser. „Wir machen das noch mit richtigem Licht und Location – das sind nur Kameraskizzen.“
Sie fragte sich, wie sie sich je verzeihen könnte, dass sie die aufregendste Begegnung ihres Lebens sprachlos verbrachte. Sie hatte ihn nicht einmal um ein Autogramm gebeten. Auf seiner Schulter entdeckte sie ein kleines weißes Haar.
Er folgte ihrem Blick. „Choupette“, er nahm das Haar vorsichtig von seiner Schulter und pustete es in die Luft. „Eine verwöhnte kleine Katzendame. Wollen Sie mal ein Foto sehen?“ Er hielt ihr sein Smartphone hin. „So sieht Choupette aus, wenn sie böse ist. Sehr launisch. Eine Prinzessin wie auf dem Bild von Velásquez.“ Er beugte sich vor und Liselotte spürte wie seine Wangen ihre kaum merklich berührten. „Sie wollten in die Tiefgarage, voilà.“ Er drückte auf ‚TG‘ und wandte sich zum Gehen. „Ach ja, für Ihre Konferenz: Mund zu - und machen. Meine Strategie war, einfach mehr als die anderen zu arbeiten und sie damit überflüssig zu machen. Das hat geklappt.“
Als die Fahrstuhltür sich hinter ihm schloss, glitt Liselotte an der Wand langsam zu Boden. Das würde ihr niemand glauben. Sie musste laut auflachen, als sie sich ausmalte, diese Szene als Entschuldigung für ihre Verspätung vorzubringen. Wieder hielt der Fahrstuhl, wie in Zeitlupe öffnete sich die Tür. Plötzlich war es so hell, als würde sie von Scheinwerfern geblendet. Liselotte hielt schützend die Hand vor die Augen.
„Aufwachen, Schatz!“ Sie spürte Bastians Lippen auf ihren. „Heute ist doch dein megawichtiger Termin.“
Zögernd öffnete Liselotte die Augen, sah sich im Zimmer um. Sie lag in ihrem Bett! Fast hätte sie vor Enttäuschung geweint. „Ich hab‘ geträumt – es war so echt und so irre …“ Am Schrank hing ihr Outfit. “Ich habe Karl Lagerfeld im Fahrstuhl getroffen!“
Bastian lachte „Das kommt davon, dass du immer diese Modemagazine verschlingst.“
„Er hat Fotos von mir gemacht. Für sein aktuelles Buch. “Bastian hielt ihr eine Tasse Kaffee hin. „Das ist allerdings irre – aber du errätst nie, was ich geträumt habe. Wir fuhren beide in dem kleinen englischen Cabrio und plötzlich …“
„… klingelt es an der Tür“, unterbrach Liselotte ihn. „Gehst du bitte?“
„Das war echt der Wahnsinn“, er stand auf. “Du wirst staunen, wenn ich dir das erzähle!“
Liselotte nippte an ihrem Kaffee. Entspannt lehnte sie sich zurück. Erst halb sieben. Wenigstens würde sie pünktlich sein. Bastian kam, einen großen Umschlag schwenkend, zurück. „Für dich – ist von einem Boten persönlich abgegeben worden.“ Er nahm einen Schluck aus Liselottes Tasse und reichte ihr das Kuvert. Liselotte stand vorn – kein Nachname, keine Adresse. Als sie ihn umdrehte, sah sie die eingeprägten Initialen KL.
„Also, wir beide in dem kleinen Flitzer -“, ungläubig hielt Bastian inne und starrte auf die Fotos. Unverkennbar Liselotte. In genau dem ausgefallenen Styling, das sie für heute bereitgelegt hatte. Auf die beigefügte Karte war ein Männerkopf gezeichnet - mit Pferdeschwanz und einer kleinen Katze auf der Schulter. ‚Wir freuen uns auf Sie‘, las sie. Unterschrift: KarL

Letzte Aktualisierung: 22.10.2014 - 20.26 Uhr
Dieser Text enthält 9154 Zeichen.


www.schreib-lust.de