Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
"Ah – vous parlez du comte de Ver d'Or?? – Ben ... moi, je l'ai bien connu!"
Die Stimme der alten französischen Kurtisane erhob sich über das im Salon herrschende Gemurmel angeregter Gespräche, durchschnitt dissonant das leise Klirren der Champagnergläser wie eine zersprungene Glocke, und die Köpfe aller Anwesenden, meist Herren, wandten sich ihr zu.
Das Licht von tausend Wachskerzen brach sich in wandhohen kostbaren Spiegeln, zeichnete weich ihre Form und Gestalt, die wie aus einem Märchen entsprungen schien – immerdar schwarzes, hochaufgetürmtes Haar, mit Diamanten durchzogen, schneeweiße Haut, blutrote Lippen, schlanker Hals, edle Haltung, eine ewig Junggebliebene, deren Linien vorgerückter Jahre verschmolzen mit dem gedämpften Leuchten geschickt plazierter Halbschatten.
Erinnerung stieg auf allerorten an den legendären Grafen Goldwurm, selbst fast eine Märchengestalt, der mit ungeheurem Charisma und unter Einsatz der natürlichen Ausstattung, die ihm von Gott und Teufel mitgegeben worden war, ein Vermögen aus dem Nichts gemacht hatte und dessen unerklärliches Verschwinden vor ungefähr zwanzig Jahren nie aufgeklärt werden konnte bis zum gegenwärtigen Tage.
Die Herren schauten sich an.
Das Interesse war von neuem entfacht.
Es kursierten mehrere Theorien unterschiedlicher Glaubwürdigkeit über das Schicksal des Grafen. Rückzug eines Todgeweihten auf eine einsame, aber luxuriös ausgestattete Südseeinsel, endgültiger Wegschluß in ein Sanatorium für unheilbar Wahnsinnige, untröstliche Verzweiflung über die Erbarmungslosigkeit einer Belle Dame Sans Merci und Selbstentleibung ihretwegen und last but not least Entführung durch Außerirdische und bestialische Kastration im Weltenraum – das war die schlimmste aller Visionen – Graf Goldwurm ohne seinen Wurm? Undenkbar!
"Wie manche unter Ihnen vielleicht wissen, wuchs ich im Château von Madame Gourdan in der rue des Deux Portes auf, wurde dort zur Frau und zur Hure - und ich merkte schnell, ich war prädestiniert dafür, die Männer in mich aufzunehmen, ich lernte alles, was nötig war pour les faire jouir d'une jouissance extrême, sie waren fasziniert von mir, und es lohnte sich."
Die Herren um sie herum nickten, das kannten sie, das war ihnen vertraut.
Die Herren rückten näher, der Kreis zog sich enger zusammen, schien kurz vor der Explosion.
" ... Ã un point, ses doigts m'ont ..."
***
Was die alte Kurtisane über ihre erste Begegnung mit Graf Goldwurm zu sagen hatte, war in den hinteren Reihen des Zuhörerkreises nur mehr bruchstückhaft zu vernehmen.
Aber die Geschichte hätte hier sowieso nicht weiter-, geschweige denn zu Ende erzählt werden können.
Sie ist zu versaut.
Letzte Aktualisierung: 22.11.2014 - 18.23 Uhr Dieser Text enthält 5355 Zeichen.