Wie lange kam er jetzt eigentlich schon hierher?
Zwei Jahre? Drei Jahre? Ludwig wusste es selbst nicht mehr.
Er hatte das Fenster durch Zufall entdeckt, als er wieder einmal einem einsamen Wolf ähnlich durch die belebten Straßen der Großstadt gezogen war. Einsam inmitten des Getümmels von Menschen, die ihren Alltagsgeschäften hinterher hasteten. Alltagsgeschäften, die er längst hinter sich gelassen hatte.
Es musste im Herbst oder Winter gewesen sein. Jedenfalls konnte er sich noch daran erinnern, dass es das warme Licht war, das auf die Straße fiel, das ihn aufmerksam gemacht hatte.
Wie auch immer – der Anblick der drei Frauen, die sich hinter der Scheibe räkelten, hatte ihn sofort gefangen genommen. Seitdem führte ihn sein Weg regelmäßig in die kleine Nebenstraße, kreisten seine Gedanken um die Schönen.
Lisa, Lola und Lena. So nannte er sie in diesen Gedanken, denn die Lust wie auch die Sehnsucht braucht einen Namen ...
Lisa war die mit dem hoch aufgetürmten blonden Haar, Lena trug das schwarze Haar zu einem flotten Bob gekämmt und Lolas rote Mähne floss wie ein Strom über ihre Schultern.
Ludwig liebte sie alle. Er liebte ihre großen, von überlangen Wimpern beschatteten Augen. Er liebte ihre fein geschnittenen Gesichtszüge mit den schrägen Wangenknochen, die geraden Nasen, die aufgeworfenen blutroten Lippen. Am meisten aber liebte er ihre Posen.
Lisa streckte ihren linken Arm graziös in die Luft, ihre Finger beschrieben einen imaginären Kreis und schienen ihm immer wieder Zeichen zu geben. Ihrem prallen Busen war anzusehen, dass hier nicht nur die Natur selbst Hand angelegt hatte, aber das störte Ludwig nicht. In seinen Träumen versenkte er seinen Kopf zwischen ihren Brüsten und atmete die Süße ihrer Haut.
Lena stand Lisa in Schönheit an nichts nach. Meist saß sie auf einem geflochtenen Korbstuhl und streckte die langen, glatten Beine in matt glänzenden Seidenstrümpfen dem Betrachter entgegen. In Ludwigs Phantasie entstanden Bilder, wie Lena mit langsamen Bewegungen diese Strümpfe über ihre weiße, glatte Haut zöge, höher und immer höher, bis sie nahe ihrer intimsten Weiblichkeit an einem Hauch von Strumpfhalter ihr Ziel gefunden hatten.
Denn während Lisa ihren makellosen Körper unter eng anliegenden Pullovern und Hosen zur Schau stellte, bestand Lenas Aufgabe darin, die darunter zu tragenden Dessous zu zeigen. Darum war der Anblick ihres ebenfalls überdurchschnittlich ausgeprägten Busens kein Geheimnis, sondern Bestandteil ihrer Bekleidung. Daran lag es wohl auch, dass Ludwigs erotischen Phantasien ein wenig der Hintergrund fehlte.
Lola war die Dame, die offensichtlich beide Bekleidungsformen in sich zu vereinigen hatte. Sie stand mit dem Rücken zum Fenster, den Kopf so zur Seite gedreht, dass von der Schönheit ihres Gesichtes nur ein kleiner Teil zu sehen war. Die rote Mähne verdeckte die weißen Schultern und endete knapp über dem Verschluss eines eng anliegenden schwarzen Mieders. Ein ebenso eng anliegendes schwarzes Höschen umhüllte nur unwesentlich die wohlgeformten Pobacken, die nackten Beine endeten in hochhackigen Stilettos.
Eine Augenweide alle drei, an der sich Ludwig kaum satt sehen konnte!
Natürlich wusste er von Anfang an, dass sich seine erotischen Träume mit ihnen nie würden verwirklichen lassen. Auch wenn er die letzten Jahrzehnte kaum von seinem Hof in die Stadt gekommen war, war er schließlich kein Dummkopf! Er hatte mit seiner Hanna ein gutes Leben gehabt da draußen, auch wenn Erotik kein Thema gewesen war. Nun war Hanna gestorben, der Hof verkauft und Ludwig alt. Jetzt hatte er die Zeit, die ihm früher immer gefehlt hatte. Freiräume, die er füllen musste. Denn die entstandene Leere erdrückte ihn.
So war er hierher geraten.
Jede Woche fuhr er nach Möglichkeit in die Großstadt und besuchte „seine“ Damen.
Wenn Hanna das wüsste, ach du liebe Güte! „Ludwig, bist du auf deine alten Tage völlig verrückt geworden? So was macht man einfach nicht! Gucken. Und schmutzige Phantasien haben. Pfui Teufel!“ So würde sie wohl mit ihm sprechen und dabei die Hände in die Hüften stemmen. Dann würde sie ihre Kittelschürze glatt streichen und in den Stall gehen.
Solche Gedanken brachten Ludwig immer zum Lachen.
Manchmal klang es auch wie ein Schluchzen.
Dann setzte er sich in den Zug und fuhr in die Stadt.
Zu seinen Damen.
Er hatte sogar schon überlegt, ob er sie nicht mal fotografieren sollte. Hanna hatte einen von diesen modernen Fotoapparaten gehabt, bei denen man die Bilder speichern kann. Sie hatte so gern ihren Garten fotografiert ...
Doch diesen Gedanken verwarf Ludwig rasch wieder.
Das wäre ja dann wohl wirklich Schweinkram, oder? Nicht nur in Gedanken mit den Damen spielen sondern sozusagen schwarz auf weiß? Das ging sicher doch wohl ein bisschen zu weit! Außerdem – was würde das für einen Eindruck machen, wenn er da mit Fotoapparat anrücken würde?
Andererseits – die Damen veränderten natürlich ihre Kleidung immer wieder. Zwar blieb sich die Bekleidungsrichtung grundsätzlich gleich, aber die Bekleidung wechselte immer wieder. Da wäre es nicht schlecht, man hätte ... Aber nein. Ludwig verwarf den Gedanken. Wahrscheinlich hätte er dann sowieso immer ein schlechtes Gewissen und würde die Bilder doch nie ansehen!
Genauso wie er damals ... Er bekam ja jetzt noch einen roten Kopf und Herzrasen, wenn er daran dachte!
Damals hatte er sich nämlich ein Herz gefasst und war durch die Tür neben dem Fenster in den Raum hineingegangen. Es war ein relativ großer und eigentlich recht gepflegter Raum gewesen. Etliche Damen waren anwesend, wenn auch keine an Schönheit mit den „seinen“ vergleichbar war. Eine dieser Damen kam gleich auf ihn zu und fragte: „Was kann ich für Sie tun?“ Sie roch stark nach einem süßlichen Parfüm und hatte eine unangenehm piepsige Stimme. Ludwig stand da wie ein Standbild. Was sollte er jetzt entgegnen? „Kann ich mal an ihr Fenster gehen?“ Vollkommen idiotisch, oder? Als die Dame ihn auch noch am Ärmel fasste, drehte er sich um und flüchtete wieder hinaus.
So war das gewesen.
Nein, das brauchte wirklich keine Wiederholung!
Heute war wieder mal so ein Tag, der ihn zu erdrücken schien.
Kalt. Feucht.
Sein Rheumatismus ließ jede Bewegung zur Belastung werden.
Er brauchte dringend eine Aufheiterung!
Schon im Zug ging es ihm besser, die Vorfreude vertrieb Kälte und Feuchtigkeit. Ja, tatsächlich – entdeckte er da nicht Sonnenstrahlen hinter den grauen Wolken?
Seine Schritte führten Ludwig beschwingt den bekannten Weg, nur noch wenige Meter trennten ihn von seinen Damen. Wie sie heute wohl aussehen würden? Immerhin war er drei Wochen nicht mehr hier gewesen!
Das Grau der Wolken sackte hinter das Fenster.
Undurchdringlich.
Ein grauer, blickdichter Vorhang.
Und da, an der Tür, hing ein großes Schild:
Wegen Geschäftsaufgabe geschlossen!
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Letzte Aktualisierung: 25.11.2014 - 20.55 Uhr Dieser Text enthält 6888 Zeichen.