Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Meine Frau arbeitete zu viel. Meist sank sie abends ins Bett und schlief ein, sobald sie die Augen geschlossen hatte. Das konnte mir nicht gefallen, aber sollte ich ihr Vorwürfe machen? Ich hatte gerade meinen Job verloren, und wir waren froh, dass Mareike so erfolgreich war.
Aber unser Liebesleben schlief mit ihr ein, und was schlimmer war, die Augenblicke sanfter Berührungen und geflüsterter Worte, diese stille Übereinstimmung zweier Menschen, die sich mögen, waren ebenfalls dahin. Im Augenblick zumindest. Unsere Liebe bestand aus gegenseitigem Respekt und einem Abschiedskuss, wenn sie wieder einmal ohne Frühstück aus dem Haus eilte.
Wenn Mareike einschlief, war ich noch glockenwach. Also las ich ein wenig, dachte an nichts und alles und wartete darauf, dass sich etwas änderte. Oder ich ging von Fenster zu Fenster und schaute hinaus, ob draußen etwas passierte. Ja, etwas passierte immer. Mal regnete es auf die Straßenlaterne, mal schneite es und mal schien das gelbe Licht völlig ungestört vor sich hin. Die seltenen Passanten waren nicht mehr als vorbeieilende Schatten.
Doch eines Abends ging einer der Schatten viel langsamer als alle anderen, und als er an der Laterne vorbei war, drehte er um und ging zurück. Wieder und wieder wie ein Wachposten, der bis zur Ablösung nur hin und zurück kannte.
Mich faszinierte die Regelmäßigkeit der Bewegung und wie kurz die Schritte waren. Der Schatten war der Schatten einer Frau. Mehr konnte ich nicht erkennen, denn das Wetter war biestig. Nordostwind, Nieselregen und Temperaturen nicht groß über dem Gefrierpunkt. Sie war in einen langen Mantel und ein Kopftuch eingehüllt, die alles verbargen, was für mich interessant war. Aber sie trug hochhackige Schuhe. Da musste sie doch frieren.
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, zog mir einen Mantel über, schloss leise die Wohnungstür und eilte die Treppen hinab. Die Frau war nicht allzu groß, hatte unter dem Kopftuch ein kleines Gesicht und volle Lippen.
„Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte ich.
Sie blieb abrupt stehen, starrte mich an und sprach kein Wort. Aber dann antworteten ihre Augen für mich, und ich wusste, was ich tun konnte. Ihre Augen waren nicht sehr höflich, aber dafür sehr deutlich. Wir gingen schweigend nebeneinander her. Nicht sehr lange. Vielleicht zehn oder fünfzehn Minuten. Auf jeden Fall verließen wir nicht unser Viertel, auch wenn ich das Haus, in dem sie wohnte, noch nie gesehen hatte.
Wir gingen in ihre Wohnung, rissen uns die Kleider vom Leib und warfen uns aufs Bett. Unsere Liebe war wild und leidenschaftlich, beinahe schon brutal. Und als unser letztes Keuchen verklungen war, sagte sie in das Dunkel der Schlafzimmernacht:
„Dieser Arsch. Ich bringe ihn um.“
Dann zog sie sich die Decke über ihre Schultern, drehte sich auf die Seite und rührte sich nicht mehr. Sie schlief nicht. Ihr Atem verriet es mir. Aber ich fragte mich, ob sie überhaupt noch wusste, dass ich neben ihr lag.
Ich stand auf, suchte meine Kleidung zusammen - einen meiner beiden Socken fand ich nicht - und verließ ihre Wohnung. Unten vor der Haustür hoffte ich noch, dass niemand sie abgeschlossen hatte, denn ich war mir nicht mehr sicher, aus welcher Wohnung ich gekommen war.
Der Rückweg war endlos und bescherte mir außer einem schlechten Gewissen einen eiskalten Fuß. Ich kroch unter die Bettdecke. Mareike schlief tief und rührte sich nicht.
Ich fiel in einen unruhigen Schlummer, wachte immer wieder auf und musste an die Frau denken, die ich gefühlt, aber kaum gesehen hatte. Und als ich wieder und wieder die Geschehnisse vor meinem Auge ablaufen ließ, kam ein Begehren zurück, das mich fast verrückt machte. In den frühen Morgenstunden zog ich Mareike an mich. Ihre Gegenwehr war nur schwach.
Im Licht der fahlen Morgensonne konnte ich ihr nicht in die Augen sehen, und sie tat so, als wäre nichts vorgefallen. Ich liebte meine Frau immer noch, aber irgendetwas war mit mir geschehen, denn von dieser Nacht an verließ ich immer häufiger nachts das Haus, und immer häufiger traf ich dann die falschen Frauen. Solche, die harten Sex mochten, nur noch wenig Illusionen über das Leben allgemein und die Männer im Besonderen hatten und sich nahmen, was sie kriegen konnten. Und dann, wieder zuhause, nahm ich mir Mareike. Ich hörte nie einen Laut des Protests.
Irgendwann ging es uns wieder besser. Ich bekam eine Anstellung, Mareike kam in eine andere Abteilung, und ich wusste, jetzt würde alles wieder gut werden.
„Du“, sagte Mareike eines Abends zu mir, „wir müssen reden. Ich habe da jemanden kennengelernt.“
Letzte Aktualisierung: 17.11.2014 - 20.08 Uhr Dieser Text enthält 4598 Zeichen.