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Verdorben | November 2014

Abgelaufen
von Christian Rautmann

Jedes Mal, wenn er diesen Raum betrat, fühlte Sven sich unwohl. Besonders am Abend. Dann wirkte der Container wie ein riesiger Schatten, aus dem jemand nach ihm greifen wollte. Da half auch das Licht der Lampe wenig, die den Raum zu beleuchten versuchte. Es stank nach Abfall und verdorbenen Lebensmitteln. Dabei lag der Müllraum im Freien und war nur von einem Zaun umgeben.
Sven fluchte leise. Toll, dass er als Azubi immer wieder ‚die Ehre hatte‘, wie Herr Lüders sagte, die Regale nach verdorbenen Lebensmitteln abzusuchen und zu entsorgen. Dabei mochte er den Marktleiter eigentlich ganz gerne. Aber das war ungerecht. Schließlich gab es noch andere Kollegen.
Vorsichtig schob Sven den Hubwagen zwischen den Regalen hindurch. Hätte er den Müll nur früher weggebracht. Dann könnte er jetzt schon zu Hause sein.
Er nahm einen Karton mit Joghurts vom Wagen. Eigentlich sahen die doch noch gut aus. Kirsche. Und zwei Tage haltbar waren sie auch noch. Aber die neue Lieferung war schon eingetroffen. Und der Platz im Regal war knapp. Schade eigentlich.
Sven hob den Karton hoch, um ihn in den Container zu werfen. Er stockte. War da nicht ein Geräusch gewesen? Er lauschte. Ja, da war es wieder. Ein leises Keuchen. Was war das? Ein Einbrecher? Nein, doch nicht im Müllraum. Seine Gedanken rasten, sein Herz schlug schneller. Schließlich nahm er allen Mut zusammen und rief vorsichtig: „Hallo? Ist da jemand?“
Keine Antwort. Er lauschte. Langsam stieg er die Treppe hinunter. Bestimmt wollten ihn seine Kollegen ärgern.
„Selma? Bist Du das? Klaus? - Das ist jetzt nicht lustig.“
Er horchte. Wieder das Keuchen. Auf einmal hörte er schnelle Schritte. Eine schmale Gestalt rannte an ihm vorbei auf den Zaun zu. Sven fasste allen Mut zusammen und lief hinterher. Kurz vor dem Zaun bekam er den Eindringling an der Jacke zu fassen. Er zog mit aller Kraft. Sein Gegner drehte sich um. Eine Frau! Kaum älter als er. Unter Ihrer Kapuze drangen schwarze Locken hervor. Ihre dunklen Augen funkelten. Sven zögerte. Sie riss sich los und kletterte über den Zaun. Sven sah sie über den Parkplatz davonrennen.
Was hatte sie gewollt? Im Müllraum? Hier gab es doch nur Abfall und verdorbene Le-bensmittel. Er sah sich um. Zu fehlen schien auch nichts. Was auch? Sven fragte sich, ob er die Sache dem Marktleiter melden sollte. Schließlich entschied er sich dagegen. Er wollte nach Hause. Es fehlte nichts und eigentlich war ja auch gar nichts passiert. Wozu also die Pferde scheu machen? Und aus irgendeinem Grund wollte er auch nicht, dass das Mädchen Ärger bekam.

Einige Tage später machte Sven auf dem Heimweg bei einer Apotheke Halt. Seine Mutter hatte ihn gebeten, ihr eine Hautcreme mitzubringen.
Als er eintrat, ertönte ein Gong. Niemand war zu sehen. Er trat an die Theke und be-trachtete die alten Apothekerschränke mit den Messinggriffen. Alles hier wirkte ein we-nig so, als wäre die Zeit stehen geblieben. Aber das gefiel ihm. Sven sah sich um.
„Guten Tag, was kann ich für sie tun?“
Er fuhr erschrocken um. Er hatte gar nicht gemerkt, dass die Apothekerin gekommen war. Er trat an die Theke. Als er sein Gegenüber betrachtete, stockte ihm fast der Atem. Vor ihm stand das Mädchen aus dem Müllraum. Diesmal trug sie allerdings einen wei-ßen Kittel.
Auch sie schien Sven zu erkennen, denn ihr hilfsbereites Lächeln verschwand. Ihre Augen weiteten sich.
„Du warst im Müllraum, oder?“, fragte Sven zögernd.
„Ja“, sagte sie leise. „Du hast mich also gefunden. Rufst du jetzt die Polizei?“
„Nein.“ Sven schüttelte den Kopf. „Ich habe niemandem etwas gesagt. Warum auch? Da hast doch nichts gestohlen, oder?“
„Danke.“ Sie lächelte. „Nein. Ich wollte Lebensmittel retten.“
„Wieso retten?“
„Vor dem Müll. Ich bin Mülltaucherin, weißt du. So nennt man Leute, die Lebensmittel vor der Müllkippe retten.“
„Du wolltest bei uns Müll klauen?“ Sven glaubte, sich verhört zu haben.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, eben keinen Müll! Lebensmittel!“
Dann erzählte sie, dass ihr Name Lisa sei und sie eigentlich Pharmazie studiere. Vor einem guten Jahr hatten Freunde sie das erste Mal zu einer Mülltauchaktion mitge-nommen. Seither war sie auch schon alleine unterwegs gewesen. Sie wollte etwas gegen die sinnlose Zerstörung von Lebensmitteln tun. Diese seien schließlich mit Erreichen des Mindesthaltbarkeitsdatums nicht automatisch verdorben. Und dass fast die Hälfte aller Lebensmittel in Deutschland im Müll lande, sei einfach zu viel.
„Obst schmeckt auch noch lecker, wenn es eine braune Stelle hat“, schloss sie.
Sven schüttelte den Kopf.
„Das ist ja Wahnsinn. Das war mir gar nicht so klar. Du hast recht. Die meisten Sachen, die im Müll landen, sehen eigentlich noch gut aus. Die kauft halt keiner mehr.“
„Genau. Und deswegen versuche ich, wenigstens etwas davon zu retten. - Was aber eigentlich doch geklaut ist.“ Sie sah Sven an und lächelte. „Du verrätst mich wirklich nicht?“
„Nein. Im Gegenteil. Ich helfe dir, wenn du willst. - Ich spreche mit meinem Chef. Er kann die Sachen doch billiger verkaufen oder verschenken. Alles besser, als dass Es-sen im Müll landet.“
Am nächsten Abend saßen Sven und Lisa in einer Pizzeria. Er betrachtet sie, während sie ihren Salat aß, und freute sich, dass er sie getroffen hatte.
Sie sah auf und lächelte. „Also, nun erzähl schon. Was hat er gesagt?“
Sven seufzte.
„Na ja. Toll war es nicht. Um es kurz zu machen: Er wollte nichts davon wissen.
„Mist“, sagte Lisa und stieß ihre Gabel in eine Tomate.
„Er meinte, der Aufwand die Ware umzupreisen wäre zu hoch. Außerdem würden die Kunden lieber neue Produkte kaufen und es entspräche auch nicht der Politik der Firmenzentrale.“
„Na toll“, Lisa lächelte grimmig. „Das war ja ein voller Erfolg.“
Sven zuckte mit den Schultern, „Einen Versuch war es wert, oder?“
Lisa nickte versonnen. Ihre Augen glitzerten. „Das war es auf jeden Fall. Denn jetzt werden wir erst recht kämpfen! Bist du dabei?“
„Aber, was willst du machen? Er wird seine Meinung sicher nicht ändern.“
Lisa lächelte. „Vielleicht. Vielleicht aber doch. Ich habe da eine Idee.“

Zwei Wochen später. Karl Lüders fuhr in seinem Mercedes zum Supermarkt. Er hoffte auf einen ruhigen Arbeitstag. Sein Terminkalender war leer. Da würde er sich mal Zeit nehmen, darüber nachzudenken, wie er dem Markt neue Impulse geben konnte.
Als er in die Straße einbog, an deren Ende der Markt lag, wunderte er sich, wie voll der Parkplatz schon war. Vor dem Eingang hatte sich eine Menschenmenge gebildet. Gab es heute ein besonderes Angebot? Er konnte sich nicht erinnern.
Er parkte und stieg aus. Als er zum Markt ging, wurde ihm klar, dass die Leute nicht wegen eines Angebots hier waren. Plakate mit Aufschriften wie ‚Essen wirft man nicht weg‘, ‚Nahrung ist Leben‘ und anderen Sprüche waren zu sehen. Energisch drängte er sich durch die Menge. Auf einem Tisch stapelten sich Lebensmittel. Dahinter standen sein Auszubildender, Sven Böker und eine Frau, die er nicht kannte.
„Schön, dass sie da sind!“, begrüßte ihn Sven. Die Frau blickte kurz herüber, legte dann aber weiter Lebensmittel, die sie von den Menschen bekam, in eine Gitterbox.
„Sven, was geht hier vor?“, fragte Herr Lüders scharf.
„Wir haben im Internet dazu aufgerufen, gemeinsam mit unserem Supermarkt etwas gegen die Verschwendung von Lebensmitteln zu tun“, antwortete er.
„Ja, wir haben in verschiedenen Social Media dazu eingeladen, Lebensmittel herzu-bringen, statt sie fortzuwerfen. Die wollen wir dann einer Vereinigung geben, die daraus Essen für arme Menschen zubereitet“, ergänzte die Frau.
Herr Lüders atmete tief durch. „Schön, dass ihr euch so engagiert. Aber was hat der Markt damit zu tun?“
„Na ja, für Lebensmittel, die die Leute abgeben, legt der Markt eines dazu“, sagte Sven. „Ich habe in den letzten Tagen einige vor dem Müll bewahrt.“
Er zeigte auf eine Palette, auf der sich Kisten und Schachteln stapelten.
Herr Lüders spürte, wie er rot anlief. „Bist du verrückt? So etwas kannst du doch nicht einfach machen, ohne mich...“
„Herr Lüders?“, sagte plötzlich jemand neben ihm. Er drehte sich um. Vor ihm stand ein kleiner Mann, der ihm einen Presseausweis vor die Nase hielt. „Sie sind doch der Marktleiter hier oder?“
„Äh, ja. Das bin ich.“
„Mein Name ist Zumbrink. Ich komme von der Allgemeinen Zeitung. Ich berichte über ihrer Aktion. Die Vernichtung von Lebensmitteln ist ja ein aktuelles Thema. Klasse, dass sie sich da engagieren!“

Am Nachmittag saß Sven im Büro von Herrn Lüders. Ihm war flau im Magen. Würde er gefeuert? Hoffentlich nicht. Ärger bekam er sicher. Immerhin - Herr Lüders hatte die Aktion laufen lassen und war mit dem Mann von der Zeitung verschwunden. Später hatte Sven ihn sogar noch mit einem Kamerateam gesehen.
Herr Lüders betrat den Raum, setzte sich an seinen Schreibtisch und sah ihn an. Sven spürte, wie Schweiß auf seine Stirn trat.
„Es hat mich sehr geärgert, was heute geschehen ist“, sagte er schließlich. „Ohne Rücksprache und ohne meine Genehmigung. - Die Lebensmittel gehören dem Markt. Auch die, die im Müll liegen.“
„Aber...“, begann Sven. Doch Herr Lüders unterbrach ihn sofort.
„Es war Diebstahl!“ Dann grinste er. „Aber einer, der mir imponiert hat! Außerdem wer-den wir nicht nur in der Zeitung erwähnt, sondern auch im Fernsehen. Da konnte auch die Zentrale nicht unzufrieden sein.“
„Das ist ja klasse“, sagte Sven. „Aber ... was ist mit Lisa und mir? Ich meine wegen des Diebstahls und so?“
„Herr Lüders schüttelte lächelnd den Kopf. Dann trat er zu Sven und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Wir lassen die Sache auf sich beruhen. Nur du, du wirst auch in Zukunft Lebensmittel aussortieren müssen. - Aber du wirst sie nicht mehr in den Müll werfen, sondern mit unserem Lieferwagen zur Tafel bringen. Dort werden sie an arme Menschen verteilt.“
Sven sprang auf und schüttelte Herrn Lüders dankbar die Hand. Als er kurz darauf überglücklich den Raum verließ, zog er sein Handy aus der Tasche und wählte Lisas Nummer. Er freute sich schon, ihr zu berichten, wie erfolgreich sie zusammen gewesen waren.

Christian Rautmann, November 2014

Letzte Aktualisierung: 23.11.2014 - 22.34 Uhr
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