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Verdorben | November 2014

Tiramisu
von Monika Heil

„Weichei!“ Ihr verächtlicher Ton brachte das Fass zum Überlaufen. Wütend ballte Malte Johannsen seine Hände zu Fäusten. Er hielt das nicht mehr aus! Ständig nörgelte Anja an ihm herum. Nichts machte er ihr Recht! Sicher, es war nicht so toll, dass er oft bis in die Nacht Dienst hatte. Andererseits - das hatte sie gewusst als sie heirateten. Und außerdem, es war schließlich nicht allein seine Schuld, dass sie sich so selten sahen. Warum hatte Anja den Job bei dem Zeitungsvertrieb in Westerland angenommen, bei dem sie in unregelmäßigen Schichten arbeiten musste? Oft fuhr sie zum Dienst, wenn er gerade nach Hause kam.
„Tu´ endlich was“, hatte sie ihn heute Morgen erst wieder angeschnauzt. „Such dir einen anderen Beruf mit besseren Arbeitszeiten“, hatte sie verlangt. Als wenn das so einfach wäre. Ein anderer Beruf kam für ihn sowieso nicht infrage. Sylt lebte vom Tourismus. Klar gab es eine große Auswahl von Hotels und Restaurants. Bessere Arbeitszeiten bot keines. Was bliebe ihm als Alternative? Die Insel verlassen, in einer Firmenkantine in Schleswig kochen oder im Krankenhaus in Husum? Nein danke. Malte Johannsen liebte seine Arbeit als Koch im Hotel „Am Leuchtturm“, auch wenn es keine Sterne vorweisen konnte. Warum ich?, fragte er sich zum hundertsten Mal. Warum sucht sich Anja nicht einen neuen Job? Auch sie könnte in der Gastronomie eine Arbeit finden, zumindest im Sommer. Doch er hörte sie schon wütend kontern:
„Und im Winter drehe ich Däumchen, oder was?“ Er wusste es und deshalb schwieg er.
„Weichei!“, stieß ihm auf wie bittere Galle. So ging das nicht weiter. Anjas ständige Tiraden brachten ihn fast um den Verstand.
„Bis der Tod euch scheidet“, hatte er einmal versprochen. Leicht machte sie es ihm nicht. Wirklich nicht! Er dachte flüchtig an Beate, die nette Kollegin an der Hotelrezeption.
„Weichei!“ Beate, die immer Freundliche, Nette, würde das niemals sagen.
Bis der Tod Euch scheidet. Könnte man diesen Zeitpunkt ...?

Wütend hatte Malte den ganzen Abend in seinen Kochtöpfen gerührt und wild auf den Steaks herumgeklopft, als wollte er sie erschlagen. Flüchtig blickte er auf seine Armbanduhr. Fast Mitternacht. Theoretisch hatte er seit einer Stunde Feierabend. Seine Küchenhelfer waren bereits gegangen. Für heute war die Schlacht geschlagen. Jetzt nur noch das Tiramisu für das morgige Mittagsmenue vorbereiten, dann würde auch er für heute Schluss machen.

Er stellte die Zutaten bereit, schlug das erste Ei auf – igitt – es war verdorben. Das zweite ebenso. Unmöglich! Wo hatte der Chef die denn eingekauft? Malte hielt sich die Nase zu und ging zur chromblitzenden Spüle. Gerade als er die Eier entsorgen wollte, fiel ihm ein Zeitungsbericht ein, der über Todesfälle nach dem Genuss von verdorbenen rohen Eiern gehandelt hatte. Und Beate, die Kollegin von der Rezeption. Und Anja, seine Frau. Da ging er zurück zum Arbeitstisch und rührte weiter. Mit viel Vanille-Zucker und anderen Gewürzen überdeckte er den Geruch. Ein halbes Gläschen Branntwein rundete das Ganze ab. Malte schnupperte aufmerksam – nichts war zu merken. Er füllte das Dessert in eine Schüssel mit Deckel, die er kurz darauf vorsichtig in den Kofferraum seines Autos stellte.

Endlich fuhr auch Malte nach Hause. Eilig hatte er es nicht. Ein paar Nachtschwärmer, wahrscheinlich von der Sansibar kommend, überholten ihn. Kurz darauf hatte er die Straße nach Westerland wieder ganz für sich allein. Der Vollmond warf sein fahles Licht auf die Dünen. Nur in wenigen der reetgedeckten Häuser brannte noch Licht. Er schien fast allein noch wach zu sein. Er liebte diese Atmosphäre und hätte nirgends anders wohnen wollen als auf Sylt. Links die sanften Hügel der Dünen, rechts das flache Wattenmeer, das er jetzt nicht sehen, sondern nur ahnen konnte. Malte schreckte aus seinen Gedanken auf. Ein kleiner Hase schaffte es gerade noch, seinem Reifen auszuweichen. Nach zwanzig Minuten erreichte er sein Haus in Westerland.

Seine Frau schlief tief und fest. Sehr schön. Als erstes versteckte er die Süßspeise im Keller. Am nächsten Morgen, während Anja duschte, holte er die Schüssel wieder herauf und stellte sie in den Kühlschrank, deckte den Tisch und schaltete die Kaffeemaschine ein. Kurz darauf erschien auch Anja in der Küche. Wortlos und mit mürrischem Gesicht goss sie sich einen Kaffee ein. Essen wollte sie nichts. Malte stand mit seiner Tasse am Fenster und sagte, ohne sich umzudrehen:
„Ich muss gleich los. Der Chef hat ein paar Aufträge, die ich vor dem Dienst erledigen soll. Außerdem ist Henrik krank. Da muss ich mittags und abends kochen.“ Henrik Vahle war der zweite Koch im Hotel.
„Wann sieht man den Herrn dann mal wieder?“ Sarkasmus lag in Anjas Stimme. Malte ging nicht darauf ein. Mit gleichmütiger Stimme fuhr er fort:
„Ich fürchte, es wird heute wieder sehr spät. Die Herren vom Deichverband tagen bei Ole im Strandhaus und die meisten essen danach bei uns. Das dauert! Und morgen habe ich wieder Mittagsdienst und da ist eine Geburtstgasfeier mit dreißig Personen angemeldet. Das bedeutet, ich muss spätestens um neun mit den Vorbereitungen anfangen. Da lohnt es nicht, wegen der paar Stunden nach Hause zu fahren. Ich schlafe am besten im Personalzimmer. Also, bis morgen Abend, Schatz.“ So viele Sätze am Stück hatte er zu Hause lange nicht mehr gesprochen.
Anja zuckte gelangweilt mit den Schultern. Eine Antwort gab sie nicht.
„Hat die wieder eine Laune“, murmelte er Richtung Fensterscheibe, bevor er sich einen zweiten Kaffee holte. Schließlich sagte sie doch in schnippischem Ton:
„Ich habe heute Abend Singkreis und dann gehe ich mit den anderen noch zum Italiener auf einen leckeren Salat.“ Mit klirrendem Geräusch stellte sie ihre Tasse ab und verließ die Wohnung noch vor ihrem Mann.
Ich halte das nicht mehr aus, dachte Malte mit verbissenem Gesichtsausdruck. Doch dann besserte sich seine Stimmung schlagartig.
„Schau in den Kühlschrank“, schrieb er auf einen Zettel und zog kurz darauf die Wohnungstür hinter sich zu. Zuerst fuhr er zur Austerncompagnie nach List, dann zurück über Westerland nach Hörnum. Fischhändler Matthiesens Geschäft lag am Weg. Es gab nur diese eine Straße, an deren Ende ihn der dicke rote Leuchtturm grüßte. Er liebte den Anblick des behäbigen Kolosses mit seiner schwarzen Mütze.

Als er die Hotelküche betrat, schlugen seine Gedanken noch immer Purzelbäume. Anja liebte Süßspeisen über alles. Malte wusste, dass sie, egal wie spät sie heim käme, das ganze Tiramisu verspeisen würde. In bester Stimmung trat er seinen Dienst an.

Gegen Abend des nächsten Tages kam er wieder nach Hause. Während der ganzen Fahrt hatte er versucht, seine Anspannung zu unterdrücken. Vergeblich. Seine Finger zitterten, als er die Wohnungstür aufschloss. Anja war nicht da. Malte öffnete die Kühlschranktür. Das Tiramisu war weg. Was war hier los?

Als das Telefon klingelte, zuckte er erschreckt zusammen. Es meldete sich die Geschäftsführerin des Seniorenheimes in der Strandstraße. Frau Lüttchen informierte ihn mit Trauerstimme, dass Frau Olga Tiedemann heute Nachmittag „plötzlich und unerwartet“ verstorben sei und bat um Maltes Besuch als enger Angehöriger der lieben Verblichenen.
„Ich komm sofort“, versprach er.
Kaum hatte er das Gespräch beendet, hörte er, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Anja kam nach Hause. Ohne Begrüßung zeterte sie los:
„Du hast ein Hirn wie – na, ich weiß nicht. Wie kannst du mir Tiramisu hinstellen, wo ich doch gerade eine Diät mache? Da esse ich nichts Süßes. Aber Tante Olga hat sich wenigstens gefreut.“
„Du brauchst deinen Mantel gar nicht erst auszuziehen. Sie ist tot“, stammelte er. Erschreckt riss Anja die Augen auf.
„Wer, Tante Olga? Aber wieso?” Aufgeregt fuchtelte sie mit einer Möhre durch die Luft. Malte Johannsen zuckte mit den Schultern. Mit seinen Gedanken war ganz wo anders. Während er seine Schuhe anzog, überlegte er. Morgen standen Pilze auf dem Speiseplan. Die waren sehr kalorienarm. Wenn er die bis nächste Woche aufbewahrte ...

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Letzte Aktualisierung: 04.11.2014 - 14.25 Uhr
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