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Verdorben | November 2014

Frühlingsgefühle
von Marcel Porta

Firmenzeitschrift Latan Corp., Ausgabe 12/2714

Geschätzte Mitarbeiter der Latan Corporation,

heute trauern wir um den Gründer und langjährigen Vorsitzenden unseres erfolgreichen Unternehmens, Dr. Charles Latan. Die Vormachtstellung auf dem Sektor der Potenzverstärker verdanken wir zum Großteil der von ihm kreierten Wunderdroge „Frühlingsgefühle“, die nach wie vor unser größter Verkaufsschlager ist.
Im Gedenken an diesen großartigen Mann und seine unvergleichlichen Fähigkeiten drucken wir in der heutigen Ausgabe seine Rede anlässlich der Verleihung der Doktorwürde in Geschichtswissenschaften ab. Sie markiert einen Meilenstein der Wissenschaft. Vorgetragen in seiner typischen Eloquenz ist sie zugleich ein schlagender Beweis für seine unbestrittenen Verdienste um die Menschheit.
Lassen Sie sich verzaubern von den klaren Gedankengängen dieser Koryphäe der Wissenschaft und folgen Sie seinen atemberaubenden Schlussfolgerungen, die bis zum heutigen Tag die Auslegung der frühen Menschheitsgeschichte nachhaltig beeinflussen.

Wir haben unseren besten Mann verloren!


Die Geschäftsleitung, am 20.12.2714


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Luna Univer-City, Große Aula, am 15.11.2654


Sehr geehrte Damen und Herren,

ich habe mich in meiner Doktorarbeit intensiv mit dem Thema „Frühling“ beschäftigt. Es handelt sich dabei um ein Wort, das schon vor Jahrhunderten aus der Mode gekommen ist. Kaum einer weiß noch, was man früher darunter verstanden hat, und die damit assoziierten Tätigkeiten oder Gefühle sind nicht mehr Bestandteil unserer heutigen Kultur. Damals, auf der Erde, ohne den Schutz sicherer sublunarer Bunker, war das Leben rauer, und dementsprechend waren es auch die Sitten. Ich werde Ihnen nun eine kurze Zusammenfassung meiner Arbeiten zu diesem äußerst interessanten Thema geben.

Ich habe tief graben müssen, bis ich in der spärlich geretteten Literatur fündig wurde. Natürlich will niemand, und ich am wenigsten, diese unerhörten Dinge, welche mit dem Frühling in Verbindung stehen, wieder hoffähig machen. Die amtlich bestellten Tugendwächter können sich beruhigt zurücklehnen und sich ihrem süßen traditionellen Nichtstun widmen. Doch aus historischer Sicht sind die Entdeckungen, die ich Ihnen präsentieren werde, geradezu sensationell. Ganz abgesehen von dem phänomenalen Elixier, das ich Ihnen am Ende des Vortrags ans Herz legen werde.

Vieles aus den damaligen Schriften ist heute nicht mehr verständlich. So hatte das sogenannte Wetter - eine vollkommen vom Zufall abhängige Abfolge von Sonnenschein und Regen - einen großen Einfluss auf die Gemütslage der Menschen. Die Anzahl der beliebten Sonnentage war in den Monaten drei bis sechs größer als in den Monaten davor. Gleichzeitig schien die Sonne nicht zu stark, wie in den darauffolgenden Monaten, die eine äußerst gefährliche Zeit darstellten. Denn in dieser Periode drohte Sonnenbrand - immer wieder gingen Häuser, Bäume und sogar Menschen in Flammen auf.
Die Zeit mit gemäßigtem Klima bekam den Namen Frühling.

Mit diesem Frühling und seinen Auswirkungen auf die Gefühle der Altvorderen - auch ein Ausdruck der vergangenen Zeit - beschäftigen sich einige literarische Miniaturen, die dem Zahn der Zeit getrotzt haben und mir entgegen aller Wahrscheinlichkeit in die Hände gefallen sind. Ich werde daraus zitieren …

„Der alte Griesgram Santhrop näherte sich den beiden Kopulierenden von hinten und bespritzte sie mit eiskaltem Wasser aus seiner Spritzpistole. Die Getroffenen jaulten, als wären ihnen Bienen in den Hintern gekrochen. Eine ungeheure Genugtuung erfüllte Santhrop, als er die beiden auseinanderflitzen sah. Auch für ihn hatte der Frühling seinen Reiz gefunden.“

Dieses Zitat stammt aus einem Beitrag vom Beginn des 21. Jahrhunderts. Es lässt erkennen, dass sich bei besonders altruistischen Bewohnern der Erde das Bedürfnis entwickeln konnte, seine Mitmenschen im Frühling mit einer erquickenden Abkühlung zu beglücken, während sie den sogenannten „verdorbenen Tätigkeiten“ nachgingen. Der Lustgewinn auch für den Wasserwerfer ergibt sich einwandfrei aus der Textstelle. Eine typische Win-Win Situation also.
Eigens zu diesem Zweck wurden Spritzpistolen hergestellt, wobei man sich darunter wohl eine Vorrichtung zum Schleudern kleiner Wassermengen vorzustellen hat. Bauanleitungen sind leider nicht überliefert, sodass wir uns auf unsere Fantasie verlassen müssen.
Nicht alle Metaphern des Textes sind noch verständlich. So ist es mir nicht gelungen, zu ergründen, was Bienen waren und wozu sie dienten. Doch da sie in der Afteröffnung des Menschen benutzt wurden, hat man sie wohl bei irgendwelchen Reinigungsvorgängen angewandt. Das Verb „jaulen“ legt allerdings auch nahe, sie seien zur Lustgewinnung verwendet worden. Dass beides gleichzeitig richtig sein könnte, ist zu unappetitlich, um es ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

In einer weiteren Schrift beschreibt ein anderer Autor in einer ungewöhnlich drastischen Szene, wie ein junger Mann sich durch die Frühlingsgefühle zu orgiastischen Taten hinreißen lässt, wie sie heute nicht mal unsere besten Samenspender zustande bringen. Hören Sie nur:

„Jan drang in sie ein, und in den nächsten dreißig Minuten war kein anderes Geräusch als das Aufeinanderklatschen zweier Leiber zu vernehmen.“

Insbesondere, dass der junge Mann sich überwinden kann, seinen Orgasmus durch direkten Körperkontakt mit einer Nachbarin herbeizuführen, löst beim heutigen Leser einen Schauder des Entsetzens und gleichzeitig der prickelnden Erregung aus. Schon die Vorstellung, wie viele Bakterien und Viren dabei ausgetauscht wurden, macht jeden Menschen unserer Zeit schwindelig. Wo doch bereits ein Handschlag, wie er früher zur Begrüßung ausgetauscht wurde, heute eine empfindliche Strafe wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses nach sich ziehen würde. Ich weiß, dass diese Theorie oft angezweifelt wird, doch ich bin sicher, dass es sich dabei um eine Tatsache handelt.

Im selben Werk wird von einer jungen Frau namens Steffi berichtet, die sich gerne anders kleidet als ihre Freundinnen, und dadurch ihre Chance auf einen Orgasmus erhöht. Ich habe lange gerätselt, was damit gemeint sein könnte. Was soll „andere Kleidung“ bedeuten? Wahrscheinlich hat sie es geschafft, eine Farbkombination zu wählen, die niemand sonst bisher gefunden hatte. Oder sie hat in einem Akt des Übermuts die Kleider anders angezogen als vorgesehen. Wie dem auch sei, warum sie damit mehr als einen Orgasmus pro Woche erlangt haben soll, bleibt uns verborgen. Es muss wohl an dem plötzlich auftauchenden Lamborghini liegen, dessen Identität nebulös bleibt. Kollegen spekulieren, es könnte sich dabei um einen Big Masturbator handeln. Dem kann ich mich nicht anschließen, denn es ist noch nicht einmal gesichert, dass dieses wundervolle Gerät damals schon erfunden war. Ich glaube fest, dass es ein Produkt unserer aufgeklärten Gesellschaft ist.

In einer dritten Erzählung aus etwa der gleichen Zeit wird von Stangenakrobatik berichtet. Dabei küsst die Protagonistin rot lackierte Balken mit ihrem anderen Mund. Hier muss es sich um etwas außerordentlich Verdorbenes handeln, das ergibt sich schon aus der roten Farbe, die immer auf etwas Derartiges hindeutet. Also liegt die These nahe, dass es sich bei dem anderen Mund um die weiblichen Genitalien handelt, auch wenn der Pseudowissenschaftler Wi N‘ Dei das vehement verneint. Keine Frau würde freiwillig ihre Schamlippen an einem Balken reiben, argumentiert er, vergisst dabei aber, welch barbarische Zeiten damals herrschten. Immerhin können wir in dieser Geschichte lesen, dass der männliche Part auf „Saugen und Lutschen“ steht. Kann sich das heute noch jemand vorstellen?

Leider kann ich nicht auf alle Beiträge dieser interessanten Lektüre eingehen. Es war ein umfangreiches Quellenstudium erforderlich und ich habe völlig neuartige Erkenntnisse gewonnen, deren kulturgeschichtliche Relevanz noch gar nicht abzuschätzen ist.
Als Nebenthema bin ich der Frage nachgegangen, ob die damals noch weit verbreitete Verdorbenheit etwas mit der ungeheuren Anzahl von Menschen zu tun hatte, welche die Erde bevölkerte. Sieben Milliarden sind eine unvorstellbare Größenordnung in Relation zur heutigen Mondbevölkerung, die kaum fünf Millionen zählt. Ich muss gestehen, dass ich keinen direkten Zusammenhang sehe. Die Verdorbenheit bezog sich auf das Sexualleben, die Fortpflanzung wurde jedoch auch schon damals mittels Fertilitätsdrohnen vorgenommen. Die letzte natürliche Geburt lag zu Beginn des 21. Jahrhunderts bereits viele Jahrzehnte zurück.

Ich habe alle Fakten, die das Thema „Frühling“ betreffen und in diesen „verdorbenen“ Geschichten zu finden waren, sondiert und Big Think damit gefüttert. Das Ergebnis habe ich in eine chemische Formel umwandeln lassen, und Big Creator hat daraus eine Essenz geschaffen, die ich im Selbsttest an mir ausprobiert habe. Das Ergebnis ist beeindruckend und statistisch signifikant. Nach der Einnahme der Essenz hat sich die Zeit, die Big Masturbator für meinen wöchentlichen Orgasmus benötigte, um durchschnittlich 30 Prozent gesenkt. Auch die Intensität, die ich mit dem amtlich zugelassenen Orgasmuskontrollator O-Troll gemessen habe, ist erfreulich höher, bewegt sich aber noch im gesundheitlich unbedenklichen Bereich. Das neue Präparat wird unter dem prägnanten Namen „Frühlingsgefühle“ in den Handel kommen.

Unseren Urahnen, deren Geschichten ich auswerten konnte, möchte ich meine tiefempfundene Wertschätzung für den Beitrag zur Erschaffung dieser neuartigen Wunderdroge übermitteln. Ihnen, liebes Publikum, lege ich dieses Geschenk aus der Vergangenheit ans Herz und gebe Ihnen einen guten Rat mit auf den Weg: Fühlen Sie sich einen Moment lang wie unsere barbarischen Vorfahren, trotz allem geborgen in der Sicherheit und der allumfassenden Hygiene unserer heutigen Zeit. Genießen Sie dieses archaische Erlebnis ungefiltert und tauchen sie mit dem wunderbaren „Frühlingsgefühle“ tief in die Welt der Verdorbenheit ein. Sie werden es nicht bereuen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit …


© Marcel Porta, 2014
Version 1

Letzte Aktualisierung: 01.11.2014 - 00.14 Uhr
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