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Verdorben | November 2014

An Schreiblust-Verlag
von Birgit Freudemann

Es ist mir nicht gelungen, eine Geschichte zu dem Wort Verdorben zu schreiben. Ich habe mich zunächst gefragt, was verdorben bedeutet, habe versucht zu ergründen, was es damit auf sich hat und bin in die semantische Tiefe gegangen.
Sind wir verdorben, mit verdorbenem Charakter ausgestattet, oder verderbt – schamlos –, sind sie verdorben – ungenießbar –, ist etwas verdorben worden – die Freude an einer Sache, die Stimmung, die Absicht, die Lust am Schreiben?
Vorsicht: Falle!, hab ich mir gesagt. Keiner will verdorben werden oder verderbt erscheinen oder hören, dass er verdorben sei. Das meint vordergründig etwas Anrüchiges, Verfaultes, Vermodertes, Verrottetes. Kann ja sein, aber ist es nötig? Es gereicht uns allenfalls als Auslöser für eine Bekundung des Ekels, der Abwehr, der Empörung und ist andrerseits nur die zweite Seite der Medaille, die täglich vor uns her rollt oder hinter der wir her sind.
Verdorben weist auf Veränderungen, Abgründe, Unverträglichkeiten, Ungereimtheiten, Unstimmigkeiten hin, auf Abweichungen von einer ursprünglichen Erscheinungsform.
Was verdorben ist, hat schon mal erfolgreich, besser gesagt folgerichtig den Weg bis zu diesem Stadium genommen, sonst gälte es nicht als verdorben, wäre rein und unverdorben, gültig und akzeptiert. Wegbegleiter für Verdorben sein oder verderbt im humanen Sinn sind Laster, Unmoralisches, Verwerfliches, Dekadentes, Auszeichnungen, deren sich manche rühmen, solange sie nicht die Konsequenzen sehen. Danach ist alles zu spät, z. B. für Wiedergutmachung. Wegbegleiter sind Witterung, Zeit und Gedächtnis. In Erinnerung halten wir Zustände fest, die nicht mehr wirklich sind, aber unsere Urteilsfähigkeit bis heute tangieren.
Wer schickt einen oder etwas auf diesen Weg, der so endet? Ein innerer Impuls? Ein bewusstes Kalkül? Wer zielt auf diesen Zustand? Ist es etwas, was gebraucht wird? Wem könnte Verdorben sein nützen? Wozu ist es gut? Ist es ein primär zu lenkender Prozess, der dazu führt, dass etwas verdorben wird, oder ein mechanischer Vorgang, der dem Gesetz des Werdens und Vergehens unterliegt, so wie alles, das lebt, auch wieder vergehen muss?
Verderben, das dem Verdorben sein vorausgeht, ist ein Bestandteil des Lebens, das in einem Prozess der morphologischen Veränderung seine Vergänglichkeit manifestiert. Beweglichkeit und Unbeweglichkeit in einem, zwei Seiten einer Sache. Verderben führt zum Verdorben sein ohne nennenswerte Unterbrechung, ohne dass jemand grundsätzlich Einhalt gebieten könnte, irgendwie folgerichtig, automatisch, könnte man sagen, unaufhaltsam. Aber Verdorben sein ist nicht immer die Konsequenz eines Prozesses, etwa eine Bewegung auf einer Einbahnstraße ins Nirgendwo. Aus dem Verdorben sein kann Neues, Unverdorbenes erwachsen, häufiger als man denkt. Es kommt auf den Standpunkt des Betrachters oder des Interpreten an, auf sein Wissen, auf Toleranz und sein Gewährenlassen. Ohne Fatalismus, aber eingedenk eines natürlichen Ablaufs wie beispielsweise beim Komposthaufen.
Des Weiteren habe ich mir gedacht, bevor ich vielleicht doch noch zu einer Geschichte komme, dass Verdorben sein auch begrüßenswerte Konsequenzen haben kann.
Aus der verdorbenen Blüte, letztlich aus ihrem verstreuten Samen, erwächst Positives, das zu einem neuen, akzeptablen Dasein führt. Es kommt stets auf den Blickwinkel an, meine ich, ob etwas als verdorben gilt oder nur einem morphologischen Zustand entspricht, der zwangsläufig und folgerichtig ist. Der natürliche Kreislauf des Werdens und Vergehens, z. B. der Winter-Sommer-Rhythmus, der signalisiert, dass etwas zu einem anderen Zeitpunkt neu ersteht.
Verdorben zeigt Farben, aber keine Beständigkeit. Dinge, die als verdorben gelten, könnten daher interessant sein, aufmunternd und vom ästhetischen Standpunkt her akzeptabel und wünschenswert. Aber Verdorben sein, dieses Etikett will gemeinhin keiner akzeptieren oder gar auf sich gemünzt sehen. Es hängt dem Verdorben sein wohl doch etwas Absonderliches an.
Da ist also etwas bereits abgesondert, wie weggeworfen, nicht mehr für brauchbar befunden, abgeschrieben, ausgeschieden aus der Fülle des Wünschenswerten. Im Abseits. Jenseits aller Erwägungen. Gehört nicht mehr zum Kreis des Erhabenen, des Passablen, des Akzeptablen, des Wahrhaftigen, des Ansprechenden, das man für real, gut oder schön hält und worüber man sich mit anderen einig ist oder sich verständigen kann.
Die große Palette der Wahrnehmungen vieler will das Absonderliche selten gelten lassen. Es irritiert, verunsichert, brüskiert. Es wird abgelehnt, fällt aus der Norm. Die Norm ist aber das Verbindliche. Nur durch die Norm ist eine Verkettung aller Umstände und Befindlichkeiten denkbar, die zum Verderben führen, das seinen Abschluss findet und als verdorben bezeichnet werden kann. Verdorben sein heißt auch schlicht abgelehnt werden.
Verdorben, sofern es als solches wahrgenommen wird, birgt etliche Gefahren in sich, für Dinge, für Menschen, für Umstände, vor allem, wenn kein Vorverständnis hinsichtlich der Zuordnung – verdorben oder nicht verdorben – vorliegt und alles nur ein einziges Verderbnis zu sein scheint, dessen Ansteckungsgefahr man fürchten muss. Gefahr liegt vor allem darin, an einem Punkt, wenn nicht sogar generell, nicht mehr der Norm zu entsprechen, keinen Platz im Raster des Normalen beanspruchen zu können. Das geht an die Substanz. Da steht einer schon hart am Rand eines Abgrunds, an dem Verdorben sein sich manifestiert, weil Absturz ohne Absicherung droht. Das Ende einer Befindlichkeit ohne Rückkehr zum Normalen. Der gewollt-ungewollt andere Weg, einer von vielen.
Verdorben sein findet seinen Ursprung oder Ausgangspunkt in einer Metamorphose der Gestalt. Metamorphosen in der Natur begleiten uns durchs Leben. Sie sind das, was wir in erster Linie wahrnehmen. Sie sind an sich nichts Schlechtes, im Gegenteil, etwas Lebendiges. An uns selbst nehmen wir zeit unseres Lebens Metamorphosen wahr, wenn wir sie wahrhaben wollen. Dennoch gilt, spricht man von verdorben, dieser Tatbestand gemeinhin als übel. Verdorben heißt eben abgelehnt werden, so wie der Tod vom Leben abgelehnt wird. Abgrenzung muss aber sein, um Realität zu spüren und sich für einen Weg zu entscheiden, eine Wahl zu haben.
Oh je, wie soll man aus diesem Tatbestand denn zu einer vernünftigen Geschichte darüber kommen? Das fällt mir immer schwerer.
Betrachten wir den verdorbenen Charakter, der nicht mehr zu denen passt, die sich als nicht verdorben wahrnehmen, total im Abseits! Vielleicht aber bewegt sich dieser eine im Kreis Gleichgesinnter, die schon verdorben, schon aus der Norm gefallen sind. Aber auch da ist Akzeptiert sein unumgänglich für das Wir-Gefühl. Ohne Wir-Gefühl lebt es sich schlecht. Ein Gruppengefühl ist eine Form von Bestätigung des Ich. Nur im Du erkenne ich mich als Ich. Im Du erhalte ich Antwort auf mich und meine Fragen und kann mich vergewissern, ob ich verstanden werde, einen Umstand richtig einschätzen kann oder ob ich irre bin oder gerade träume.
Da fragt man sich: Sind wir verdorben? Oder sind es eher die anderen? Ein Verdorbener allein trägt kein Wir-Gefühl in sich. Er giert höchstens nach Anerkennung, die ihm keiner gewährt, mit Ausnahme der Gleichgesinnten, weil er für andere als verdorben gilt, aus dem Raster gefallen ist.
Wenn etwas verdorben ist, wird es als Abfall gewertet, für unbrauchbar erklärt, obsolet. Es hat die Verwertbarkeit verloren. In unsrer Wegwerfgesellschaft gilt vieles als verdorben und darf getrost weggeworfen werden, muss es sogar oft aus einer besonderen Norm heraus. Manchmal unterliegt das nicht Wegwerfen einer Bestrafung derjenigen, die etwas nicht als verdorben akzeptieren wollen.
Es gibt nur wenige Fälle, in denen Verdorben-sein nicht mit Wegwerfen-müssen-dürfen-sollen gleichzusetzen ist. In der Wirtschaftsökonomie spricht man von verdorbenen Preisen. Die sind nicht anrüchig, auch nicht richtig, aber vielleicht existenzgefährdend, aus der Sicht der Produzenten. Da braucht es herzhafte, fair veranlagte Handelnde, die sie wieder ins rechte Licht rücken. Auch die soziologische Komponente ist nicht zu übersehen, wenn wir jemanden verdorbener Ansichten bezichtigen und ihn ausgrenzen. Schon im Kindesalter sprechen wir vom Spielverderber, wenn eines der Kinder das Spiel verdirbt und die Mitspieler darunter leiden. Verdorben sein kann auch bedeuten, dass einem der Spaß an einer Sache verlorengegangen ist. Dann ist die Stimmung hin, wie weggeworfen.
Verdorben bedeutet nicht genießbar, auch Menschen können durch ihre Art ungenießbar sein im Sinne von nicht mehr zu ertragen, nicht angepasst sein an die Gepflogenheiten, an den allgemeinen Konsens. Ungenießbar sein oder ungenießbar werden ist eine immanente Bedrohung für jeden, ein Wagnis für sich, vielleicht ein schlechtes Abenteuer, eine Reise ins Ungewisse ohne Rückkehr. Ein Sich-Hinausstellen, ein Sich-aus-der-Norm-Stellen. Ungenießbar sein steht für den Prozess des Verfalls. Eine Umkehr ist nicht möglich, so wenig, wie die Zeit zurückgestellt werden kann. Allenfalls in der Erinnerung, ohne Relevanz für das Hier und Jetzt. Ungenießbar ist nicht reversibel, aber stetig präsent. Ungenießbarkeit, Verdorben sein ist an einen Endpunkt gekommen, zu etwas Endgültigem. Lässt keine Alternative für einen anderen Weg zu, denn Verdorben sein gilt ab einem festgelegten Zeitpunkt und ist ein folgerichtiger Zustand einer zwangsläufigen Entwicklung. Bedarf jedoch der Zustimmung, der Übereinkunft, der Akzeptanz, der Verständigung über Normen.
Eines weiß ich gewiss: Verdorben beruht auf kommunikativer Übereinkunft. Die ist kultur- und sprachabhängig, in Ausgestaltung und Wertung. Sie unterliegt den gesellschaftlichen Prozessen, der Historie, dem nationalen Verständnis, dem sprachlichen Gebrauch. Verdorben sein ist letztlich auch eine Frage des Geschmacks, in dem Fall ein reversibler Umstand.
Aber das alles bringt mich nicht dazu, jetzt eine vernünftige Geschichte zu schreiben. Was wäre denn der Anlass? Da kann ich nur eine kurze Aussage treffen:
Verdorben ist verdorben. Basta.

Letzte Aktualisierung: 13.11.2014 - 21.11 Uhr
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