Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
Sie sahen sich stumm an: Abschied. Nicht, wie man Adieu sagt im Bewusstsein eines Wiedersehens, sondern Abschied bei einer Reise ohne Wiederkehr. Zumindest glaubte sie, dieses eigene Empfinden auch in Roberts Blick wiederzuerkennen. Trauer, Schmerz - und Ergebung. Sich fügen in das Unausweichliche. Hier war ihr Badezimmer, mit Bedacht als Tatort gewählt. Keine Bahnsteigkante. Kein Winken aus dem Abteilfenster ('Und grüß schön …'): Sie lebten allein und zurückgezogen, hatten beide nur sich selbst. Niemanden gab es zu grüßen. Und selbst wenn: er hätte es nicht mehr gekonnt.
Leise, aber unerbittlich tickte die Wanduhr. Zählte ihnen die Sekunden und Minuten vor, die noch blieben. Näherte sich dem entscheidenden Moment. Bleierne Müdigkeit hatte die Frau erfasst. Eine Trägheit und Distanz, als sähe sie sich und ihn von fern mit den Augen eines unbeteiligten Dritten. Es war kalt in der kleinen Wohnung. Letzte, schwache Sonnenstrahlen verirrten sich durch die Scheiben und stocherten teilnahmslos im vergilbten Plastikstrauß auf der Fensterbank. Dann zogen sie sich zurück. Der Zeiger rückte weiter vor und der Raum lieferte mit traurigen Halbschatten seinen Anteil an der lastenden Düsternis. Einsetzendes Dämmerlicht auch draußen. Stille in kahlen Zweigen. Das große Abschiednehmen – es hatte für diesen Tag auch in der Natur begonnen.
Sie gab sich einen Ruck und erhob sich wie unter Zentnerlast. Schaltete das elektrische Licht ein. Robert blickte zu ihr auf. Erneut las sie Kummer und Resignation in seinen Augen. Was tue ich da, fragte sie sich und fühlte sich elend und, trotz aller längst durchdachten guten Argumente, schuldbewusst. Aber obwohl ihre Hand zitterte, umklammerte sie das scharf geschliffene, lange Messer hinter ihrem Rücken in festem Griff. Streichelte sanft mit der freien Hand Roberts Stirn. Mochte er es vielleicht ahnen, sie aber wusste es gewiss, dass dies die letzte Geste der Zuneigung, fast noch Liebe, sein würde. Wie eine Verräterin kam sie sich vor, wie eine auf ewig verdammte Mörderin. Aber es musste sein.
Wieder und wieder hatte sie sich diesen Augenblick ausgemalt. Hatte Ausführung und anschließenden Ablauf sorgfältig konzipiert. Jetzt sollte es in die Tat umgesetzt werden, das war etwas Anderes. Sehr schnell musste es geschehen. Robert sollte nicht unnötig leiden.
Stoß endlich zu, dachte sie fieberhaft. Es war, als hätte ein Krampf ihren ganzen Körper erfasst. Wie ihr Herz hämmerte! Ob Robert es hören konnte? Auf ihrem Rücken breitete sich ein dünner Schweißfilm aus. Wie so oft bewegte Robert die Lippen. Als wollte er etwas sagen. Ein letztes Wort, vielleicht am Ende doch noch ein Protest. Aber natürlich blieb es beim Versuch. Wie immer blieb er stumm. Leb wohl, Robert. Ich habe kein Herz aus Stein, verzeih mir. Du weißt, auf meine Weise liebe ich dich auch jetzt, in diesem Moment. Aber so kann es nicht weitergehen. Zu lange hat es schon gedauert. Sie wurden alt. Beide. Mehr als zehn Jahre Pflege und Betreuung des stummen Patienten gingen über ihre Kraft, ertrug auch ihre Psyche nicht. Zehn Jahre ständige Fürsorge, tägliche Verantwortung und Zuwendung. Morgens der erste, abends der letzte Gedanke.
Es musste ein Ende haben. Die Verkrampfung löste sich. Jetzt! Mit einer einzigen Bewegung zog sie ihn zu sich hoch, riss das tödliche Messer hervor und stach es ihm tief in den Hals. Robert starrte sie an. Erst erstaunt, dann entsetzt, anklagend. Ach Robert, du wolltest also wirklich noch weiterleben, was? Ein hellroter Blutstrom quoll aus der klaffenden Wunde. Schreiend erhob sie das Messer erneut: So stirb doch! Ich ertrage deinen Blick nicht. In diesem Moment wurden seine Augen glasig. Die Lippen bewegten sich ein letztes Mal. Dann war es vorbei.
Rasend schnell war es gegangen, und doch schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Erschöpft ließ sie das Messer sinken. Lange blickte sie auf den Toten hinunter. Nur langsam beruhigte sich ihr Herzschlag. Abgrundtiefe Traurigkeit erfasste sie, gepaart mit überraschend einsetzender Gleichgültigkeit. Heiligabend einer Mörderin, die niemand anklagen würde! Wer, wenn nicht sie, hätte es denn tun sollen? Fast verwundert registrierte sie, dass ein Aufruhr des Gewissens ausblieb. Zu unabwendbar war dieses Ende. Oder war es unbewusster Schock? Würde die Reue später folgen? Mechanisch erledigte sie den Rest des Planes. Ganz so, wie sie es sich zurechtgelegt hatte. Am Abend waren alle Spuren beseitigt. Kein Blut mehr, alles sauber. Es hatte weniger Mühe bereitet als gedacht.
***
Ilse fühlte sich am nächsten Tag erneut elend. Jeder Appetit fehlte, und erst bei Anbruch der Nacht vom ersten zum zweiten Feiertag zwang sie sich widerwillig etwas zu essen. Dass dieses Mahl nicht munden wollte, erstaunte sie nicht. Unter gewöhnlichen Umständen hätte es eigentlich anders sein sollen. Immerhin gab es Karpfen blau.
? Hajo Nitschke, V2
Letzte Aktualisierung: 07.12.2014 - 13.00 Uhr Dieser Text enthält 4918 Zeichen.