Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Wen(n) wir lieben | Dezember 2014
Klara und der Schneemann
von Ingo Pietsch

Es hatte den ganzen Tag über geschneit. Klara wäre am liebsten nach draußen gegangen und hätte eine Schneeballschlacht gemacht.
Aber ihre Mutter wollte davon nichts hören: „Ich backe mit Anna jetzt Kekse. Du kannst nachher mit Papa draußen spielen.“
Geknickt war Klara in ihr Zimmer gegangen. Nie hatte ihre Mutter Zeit für sie. Immer ging es nur um Anna. Sie konnte doch nichts dafür, dass sie die kleinere Schwester war. Und ihr Vater war den ganzen Tag auf der Arbeit. Wahrscheinlich kam er erst nach Hause, wenn sie schon schlief.
Es waren noch zwei Tage bis Weihnachten. Klara wäre liebend gerne zu den Nachbarskindern gegangen. Die waren aber verreist oder wollten selbst Kekse backen oder mit der Familie spielen.
Klara sah aus dem Fenster: Der Schnee war noch höher als vorhin.
Sie hielt es nicht mehr aus und zog sich ihre Wintersachen an.
„Mama, ich gehe in den Garten!“, rief sie. Es kam keine Antwort aus der Küche, nur Weihnachtsmusik und das Brummen des Ofens drangen ins Wohnzimmer.
Klara zuckte mit den Schultern, riss die Terrassentür auf und zog sie zur Seite.
Kalte Luft prickelte auf ihrem Gesicht und ihr Atem verwandelte sich in Wölkchen.
Sie schloss die Tür hinter sich und da es schon zu dämmern begonnen hatte, schaltete sie die Außenbeleuchtung ein.
Der Schnee war mindestens so hoch wie ihre Stiefel und funkelte, als bestünde er aus unendlich vielen Diamanten.
Klara machte ein paar Schritte, sank aber nicht tief ein. Es knackte dabei herrlich. Klara bückte sich und formte einen Ball. Der Schnee pappte hervorragend und die Kugel fiel nicht auseinander. Letztes Jahr hatte es nur Pulverschnee gegeben und da auch nur zu Silvester.
Klara begann eine größere Kugel zu rollen. Sie entfernte sich immer mehr von der Terrasse.
Der Garten war sehr lang gezogen und bestand fast nur aus Rasen. Zu den Nachbarn hin standen Büsche und kleine Bäume. Ihr Vater hatte den Rasen zum Fußballspielen gesät, aber weder Klara noch Anna spielten gerne Ball.
Hinter den Büschen begannen Felder und dahinter lag ein Waldstück in weiter Ferne.
Aber Klara kam nur bis zur Hälfte der Wiese, dann war die Kugel zu groß, um sie noch weiterzubewegen.
Sie machte sich an die nächste Kugel, die sie dann unter großen Mühen auf die erste hievte. Jetzt war der Schneemann genau so groß wie sie. Fehlte nur der Kopf. Der ging schneller.
Klara begutachtete ihr Werk, besserte mit Schnee nach und füllte die Zwischenräume, damit der Schneemann nicht gleich wieder auseinanderfiel.
Ein letzter Blick, dann lief sie zur Terrasse und holte die Plastiktüte mit Kastanien, die sie im Herbst gesammelt hatte und eigentlich Männchen damit basteln wollte. Aber ihre Eltern und ihre Schwester waren wie immer zu beschäftigt gewesen, um ihr dabei zu helfen.
Mit den Kastanien steckte sie einen Mund, Augen und Knöpfe für eine Jacke. Dann fand sie noch einen Tannenzapfen für die Nase. Aus dem Sandkasten fischte Klara einen alten Topf als Hut. Am Schuppen lehnte noch Papas verzweifelter Versuch eines Reisigbesens aus eigener Produktion, den sie dem Schneemann an die Seite stellte.
Und zum Schluss wickelte sie ihm noch ihren eigenen Schal um den Hals.
Fertig. Klara war mit sich selbst zufrieden. Jetzt brauchte der Schneemann nur noch einen Namen.
Sie dachte nach: Frosty oder Olaf?
„Ich werde dich Erwin nennen! Mein Opa hieß so und ist letztes Jahr gestorben. Und ich vermisse ihn schrecklich!“ Klara weinte fast.
„Klara! Komm rein, es gibt Abendbrot!“, rief ihre Mutter von der Terrasse aus.
„Ja, ich komme. Schlaf gut Erwin!“
Sie drückte den Schneemann noch einmal und rannte ins Haus.

Als Klara am nächsten Morgen erwachte, war es schon hell draußen. Sie sprang aus dem Bett und schaute aus dem Fenster nach unten in den Garten.
Der Schneemann war weg!
An der Stelle, wo er hätte stehen müssen, lag nur der alte verbeulte Topf und eine Spur, als hätte jemand den Schneemann weggezogen.
Klara rannte nach unten.
„Mama! Mein Schneemann ist weg!“, rief sie dabei.
In der Küche saßen ihre Mutter und Anna und tranken Kakao.
„Mama, Mama!“ Klara schaute sich um. „Ist Papa noch da?“
Ihre Mutter schüttelte den Kopf: „Er musste noch mal ins Büro, kommt heute aber früher nach Hause.“
Als er gestern Abend zurückgekommen war, hatte Klara schon geschlafen.
Klara senkte traurig den Kopf. „Ich wollte ihm doch so gerne meinen Schneemann zeigen.“
Anna schnitt eine Grimasse.
„Schatz“, sagte ihre Mutter liebevoll, „er ist doch noch da. Komm mit.“
Klaras Mutter nahm sie bei der Hand und sie gingen ins Wohnzimmer.
Am Rand der Terrasse stand der Schneemann und lächelte mit seinem Kastanienmund zum Fenster hinein.
„Siehst du. Er steht genau dort, wo du ihn gestern gebaut hast.“ Klaras Mutter streichelte ihr über den Rücken.
Klara öffnete den Mund. Aber sie war viel zu erstaunt, um etwas zu sagen.
Wie war der Schneemann dort hingekommen?

Klara spielte den ganzen Vormittag und den halben Nachmittag draußen im Garten.
Immer wenn sie eine Autotür knallen hörte, lief sie nach vorn - doch es waren immer nur die Nachbarn, die mit Weihnachtseinkäufen zurückkamen.
Klara baute ein Iglu für ihre Barbies und erzählte dem Schneemann dabei alles Mögliche: Was sie den ganzen Tag machte, wie sehr ihre Schwester nervte, was sie sich zu Weihnachten wünschte und dass ihr Vater immer so viel arbeiten musste.
Der Schneemann schien ihr zuzuhören. Und was Klara jetzt erst auffiel: Egal wo sie sich gerade im Garten befand, Erwin blickte immer in ihre Richtung!
Klara fand das gruselig und lustig zugleich.
Außerdem war sie neugierig. Sie umkreiste den Schneemann und beobachtete ihn dabei ganz genau. Doch nichts geschah. Er hatte sich nicht ein Stück bewegt.
Hinter Klara raschelte es. Sie drehte sich um und sah eine Katze, die sich die Pfoten leckte.
Klara schüttelte den Kopf. Wie leicht sie sich erschrecken ließ!
Die Katze streunte um ihre Beine herum und lief mit einem Miau davon, als Klara sich vor Schreck auf den Boden setzte: Erwin sah sie schon wieder an!
Allmählich begann es zu dämmern.
Klara ging ganz langsam auf Erwin zu, stellte sich auf die Zehnspitzen und musterte seine Kastanienaugen. Die hellen Stellen verliehen ihm einen traurigen Blick, doch das Kastanienlächeln dazu machte daraus ein freundlich-großväterliches Gesicht.
Sie tippte Erwin an die Tannenzapfennase - wieder passierte nichts.
Hatte sie sich alles nur eingebildet?
Klara wollte ihrer Mutter davon erzählen und rief: „Mama!“.
Als niemand antwortete, sagte sie zu Erwin: „Warte hier! Ich bin gleich wieder da!“
Erwin sah an ihr vorbei, zur Terrasse.
Dort stand ein großer, grauer Hund.
Im Halbdunkel erkannte Klara, dass es kein Hund war.
Die ausgemergelte Gestalt mit der heraushängenden Zunge war ein Wolf!
Und er versperrte ihr den Weg zum Haus.
Der Wolf trottete näher und begann zu knurren.
Klara ging rückwärts und stieß an Erwin. Tränen kullerten über ihre Wangen und sie zitterte.
Der Wolf machte Anstalten zu einem Sprung.
Eine unsichtbare Hand schob sie hinter Erwin.
Klara hielt sich die Arme vors Gesicht. Starr vor Angst brachte sie keinen Ton hervor.
Plötzlich gab es ein lautes Jaulen und mehrere Menschen schrien: „Hau ab! Verschwinde!“
Dann wurde sie hochgerissen und jemand presste sie an seine Brust: „Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Klaras Vater.
Ihre Mutter stand bibbernd in Hausschuhen im Schnee und Anna trug sogar nur Socken.
Sie umarmten einander und gingen nach drinnen.
Klara blickte über die Schulter ihres Vaters: Erwins Kopf lag auf dem Boden und der Reisigbesen war zerbrochen.
Erwin hatte sie gerettet!

Die Familie saß noch den ganzen Abend im Wohnzimmer, trank heißen Kakao, lauschte stimmungsvoller Musik und erzählte sich gegenseitig Geschichten.
„Ich finde es gut, dass du so geistesgegenwärtig mit dem Besen nach dem Wolf geschlagen hast. Zu irgendwas musste das Ding ja gut gewesen sein“, lobte Klaras Vater sie.
„Das habe ich nicht! Das war Erwin gewesen!“, beteuerte Klara.
Klaras Vater sah seine Frau an, die nur die Schultern hob. Anna rollte mit den Augen.
„Erwin ist der Schneemann, stimmt`s?“, wollte er wissen.
Klara nickte stumm. Ihre Augen wurden feucht.
„Wisst ihr, was wir jetzt machen?“, fragte er in die Runde. Alle sahen ihn an.
„Wir gehen jetzt nach draußen und reparieren Erwin und bauen ihm als Dankeschön eine Schneefrau!“
Niemand protestierte.
Die Familie baute eine Erna, die den Erwin an der Hand hielt.
Dann machten sie noch eine Schnellballschlacht und hatten so viel Spaß wie schon lange nicht mehr zusammen.

Als Klara am Weihnachtsmorgen erwachte, fühlte sie sich glücklich. Wahrscheinlich ist das der Geist der Weihnacht, dachte sie.
Sie tappste nach unten. Es war still.
„Mama? Papa? Anna?“, fragte sie zögernd.
„Hier!“, antwortete Anna aus dem Wohnzimmer.
Klara ging hinein und fand ihre Eltern und ihre Schwester, die nach draußen sahen.
Es schneite. Und dort im Schneegestöber standen Erwin und Erna und lächelten sie an.
Und vor den beiden stand ein kleiner Schneemann mit Schaufel in der Hand und Plastiksieb auf dem Kopf!
„Wart ihr das?“ Anna war ganz aufgeregt.
Alle drei blickten ungläubig und schüttelten die Köpfe.

Letzte Aktualisierung: 21.12.2014 - 18.15 Uhr
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