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Wen(n) wir lieben | Dezember 2014

Verschlüsselt
von Karl-Otto Kaminski

Die ohrenbetäubende Fanfare störte ungemein. Plötzlich schwieg sie. Die Feuerwehr fuhr also nicht vorbei. Hielt sie vorn auf der Straßenseite? Brannte es etwa hier im Haus? Lea schrak unter mir zusammen. Mir verging die Lust. Wo es brennt, gibt es Aufregung, Retter, Gaffer, Aufmerksamkeit, die ich gar nicht brauchen konnte.
Verschwitzt rappelte ich mich hoch. Ich musste schleunigst raus hier. Mit schlotternden Knien stieg ich in meine Hosen, stopfte das T-Shirt hastig in den Bund, trat nervös in die Turnschuhe. Ohne sie zuzubinden rannte ich zur Tür. Riss sie auf. Beißender Qualm schlug mir entgegen. Es stank nach verbrannter Kabelisolierung und verkohlenden Textilien. Verdammt! Hatte ich da bei der Reparatur irgendwas falsch gemacht? Lea hatte vorhin den Wäschetrockner im Badezimmer befüllt und eingeschaltet, bevor sie mich ins Schlafzimmer zog. Sie war so froh gewesen, dass ich das Ding wieder in Gang gekriegt hatte.
Rasch schlug ich die Tür wieder zu. Verdammte Scheiße! Jetzt saß ich in der Falle. Sicher stand die gesamte Nachbarschaft schon im Treppenhaus oder auf der Straße. Die würde sich freuen über den unerwarteten Gesprächsstoff: Bei Kötters brennt es. Die Feuerwehr kommt. Und plötzlich rennt ein fremder Kerl aus der Wohnung. Was hat der da zu suchen, abends um halb neun? Hat Frank nicht Spätschicht diese Woche? Oh, oh, oh!
Fürchterlicher Gedanke! Wie, zum Teufel, sollte ich hier jetzt ungesehen rauskommen?
Nebenan klirrten Scheiben. Wasser prasselte. Eine Lautsprecherstimme befahl etwas Unverständliches. Jetzt klopfte jemand an das Schlafzimmerfenster. Ich fuhr geschockt herum. Ein uniformierter Mensch mit Helm wollte rein. Lea hatte sich gerade notdürftig angezogen und öffnete mit fliegenden Händen beide Flügel.
„Kommen Sie rasch!“, befahl der Feuerwehrmann. „Nix wie raus hier! Über die Leiter.“
„Ja, aber …“, stotterte Lea.
„Kein Aber!“, schrie die Uniform. „Oder wollen Sie hier verkohlen?“
Der Mann schwang sich rasch ins Zimmer, griff sie am Arm, zerrte sie zum Fenster und hob sie hoch. Dort erschien noch ein Helm. Wie eine Teppichrolle verschwand Lea in der blau flackernden Dunkelheit.
„So, jetzt Sie!“, brüllte der Uniformierte. „Raus! Raus!“
Ich stieg vor Höhenangst bibbernd rückwärts aus dem Fenster. Krallte mich an den Rahmen, solange es ging. Tastete mich Sprosse für Sprosse über drei unendliche Stockwerke die Leiter hinunter auf den Hinterhof.
„Das sind alle!“, schrie der Mann von oben.
„Na, Gott sei Dank!“, sagte eine tiefe Männerstimme unter mir. Ich sah vorsichtig runter. Nur noch zwei Stufen.
Da sprang ich ab. Rannte vorbei an Lea und den Rettern. Glücklicherweise standen die Mitbewohner und Gaffer alle auf der Vorderseite des Hauses, außerhalb der Absperrung. Da war es interessanter. Dort brannte es. Da wurde gelöscht. Von denen sah mich hier hinten keiner.
„He! Bleiben Sie doch hier!“, rief der Bass hinter mir her. „Wir brauchen Ihre Aussage für unser Brandprotokoll!“ Der konnte mich mal mit seinem Protokoll! Ich war weg. Mich hatte es in diesem Haus nie gegeben! Rasch drückte ich mich durch einen Seitengang und rannte erst mal um den Block.

Als ich etwas später, zwischen den offenen Mäulern der Sensationslüsternen, mein Fahrrad vom Laternenmast losmachen wollte, um nach Hause zu radeln, stellte ich erleichtert fest, dass mich von denen tatsächlich niemand kannte. Da hatte ich ja noch mal Schwein gehabt!
„Das Bad?“, hörte ich einen Uniformierten zu seinem Kollegen sagen, „Totalschaden. Sonst alles okay. Zum Glück ist niemand verletzt.“
Der Brand war inzwischen gelöscht. Die Einsatzwagen rückten allmählich ab. Die Schaulustigen begannen sich zu zerstreuen.
Mein Rad war noch da. Es hatte eine Sicherheitskette mit garantiert unknackbarem Schloss. Zu dem gehörte ein raffinierter Schlüssel mit siebzehn unterschiedlich langen Zähnchen. Ich wühlte in allen Taschen meiner Jeans. Kein Schlüssel drin!
Verdammt! Hatte ich den oben in der Wohnung verloren?
Vielleicht sogar im Schlafzimmer?
Schon vorher, auf der Treppe?
Oder eben, beim Heruntersteigen über die Drehleiter? Verdammter Mist! Was nun?
Natürlich musste ich das Rad jetzt hier lassen. Konnte ja nicht zurück in die verqualmte Wohnung. Durfte auch nicht unter dem Schlafzimmerfenster suchen. Also musste ich zu Fuß nach Hause gehen. Hatte leider kein Portmonee mitgenommen, kein Geld für Straßenbahn oder Taxi. Brauche ich doch nicht für unsere Schäferstündchen.
Bei jedem Schritt heimwärts bohrten immer unangenehmere Fragen in meinem Hirn:
Was wird Jenny sagen, wenn ich ohne mein teures Fahrrad auftauche? Ich hab den Schlüssel leider verschusselt, werde ich behaupten. Was ja auch stimmt. Morgen borge ich mir dann bei Benno den großen Bolzenschneider und hole die Karre ab. Benno wohnt ja nicht weit von Lea. Und der macht mir bestimmt auch wieder ein Alibi, wenn Jenny misstrauisch werden sollte: Schachabend. Das kennt sie schon und glaubt es immer noch, Gott sei Dank! Das lüg ich schon zurecht.
Aber wo ist dieser verdammte Schlüssel?
Vielleicht liegt er ja im Badezimmer. Sollte der bei dem Brand geschmolzen sein, hätte ich noch mal Glück gehabt. Aber was, wenn nicht?
Kann so ein Ding überhaupt schmelzen?
Was ist, wenn man den Schlüssel findet und Fragen stellt?
Wer könnte ihn finden? Lea, das wäre das Beste. Die würde ihn wahrscheinlich verschwinden lassen, ihn mir irgendwann wiedergeben.
Und wenn Frank ihn findet? Das wäre nicht besonders gut.
Kann Lea ihm erklären, wie dieser sonderbare, fremde Schlüssel in die Wohnung, womöglich ins Schlafzimmer kommt?
Spielt sie die Ahnungslose?
Oder behauptet sie, der gehöre wahrscheinlich dem uniformierten Retter?
Wird Frank ihr das glauben? Dann wird er doch sicher die Feuerwehrmänner fragen.
Oh, Mann! Die Feuerwehrleute besser nicht! Die würden ihm sicher von dem Kerl erzählen, den sie zusammen mit seiner Frau aus der Wohnung gerettet haben, der aber dann von der Leiter sprang und im Dunklen verschwand. Das wäre schlimm.
Was könnte Lea ihrem Mann sonst erzählen? Ein Elektromonteur hat den kaputten Trockner so laienhaft repariert, dass er gleich darauf zu brennen anfing?
Wird er ihr glauben, dass der unfähige Handwerker sich einfach verdrückt hat, dass er feige von der Feuerwehrleiter hüpfte, weil er Mist gebaut hat?
Welche Firma hat Lea beauftragt, und wie heißt der Kerl, der den Pfusch verursacht hat? Das würde ich sie fragen, wenn ich Frank wäre, schon wegen der Versicherung.
Wieso kam der Kerl überhaupt so spät am Abend? So wichtig ist doch kein Wäschetrockner.
Und was hatte der im Schlafzimmer zu suchen?
Wird Frank diese Fragen stellen?
Was wird Lea antworten?
Erfindet sie rechtzeitig die richtigen Ausreden? Dass er mit ihr dorthin geflohen ist, weil es im Bad zu brennen anfing, zum Beispiel?
Hält sie dicht, oder verplappert sie sich und haut mich in die Pfanne? Wenn sie ihm die Wahrheit sagt, schlägt mich Frank anschließend sicher zusammen und lässt sich womöglich von Lea scheiden. Aber dann würde wahrscheinlich auch Jenny von meinem Seitensprung erfahren, und es gäbe noch eine zweite Scheidung. Um Gottes Willen!
Vielleicht wird der Schlüssel aber auch gar nicht gefunden. Oder man misst dem kleinen, unbekannten Gegenstand keine Bedeutung bei, wirft ihn einfach weg. Dann wäre ich prima aus dem Schneider.
Aber was ist mit der Feuerwehr?
Müssen die Leute eigentlich genau protokollieren, wen sie gerettet haben? Sicher haben sie Lea schon gefragt, wer da vorhin nach seiner Rettung so grundlos getürmt ist.
Hat Lea ihnen meinen Namen gesagt?
Wenn ja, geben die den Namen weiter? An Frank? Oder an die Presse womöglich? Ich seh schon die Überschrift: Wer war der Mann, der von der Leiter sprang?
Oh Mannomannomann! Was für ein Stress für eine leider misslungene Reparatur und eine knappe halbe Stunde Liebesglück!

Letzte Aktualisierung: 21.12.2014 - 01.00 Uhr
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