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Wen(n) wir lieben | Dezember 2014

Blickwinkel
von Kerstin Jauer

Derrels Geschichte

„Bist du sicher?“, fragte er vom Fahrersitz aus nach hinten.
Derrel ließ sich mit seiner Antwort Zeit. In der Ferne hörte er das Hupen eines zornigen Autofahrers.
„Nein“, antwortete er schließlich mit belegter Stimme.
Sein Kumpel am Steuer nickte, dann zog er die Skimaske über sein Gesicht.
Derrel tat es ihm gleich.
Der Fahrer trat aufs Gas und der Wagen sprang nach vorne. Das Licht der Scheinwerfer riss die verlassene Straße aus dem Dunkel. Mike fuhr zügig, aber er raste nicht. Noch nicht. Auf keinen Fall wollten sie Aufmerksamkeit erregen. Selbst wenn es in dieser Gegend unwahrscheinlich war. Seit vor zwei Jahren das große Shopping-Center direkt in der Innenstadt eröffnet worden war, starben die kleinen Läden der Randbezirke nach und nach aus. Derrel ließ die Fensterscheibe herunter, atmete die kalte Winterluft ein. Sie roch nach Schnee und Eis. Vielleicht würde es später schneien.
Wir tun das Richtige, sagte sich Derrel und doch hatte es nicht die gewünschte Wirkung auf ihn. Die Flasche in seiner linken Hand fühlte sich falsch an wie ein zu enger Schlips, der einem die Luft abschnürte.
Seine Handflächen begannen zu schwitzen. Er klammerte seine Finger fester um das Glas.
Mike bog nach links in die Hahlerstraße ein. Es war so weit.
Derrel konnte das Geschäft weiter vorn in der Dunkelheit bereits erahnen. In keinem der Fenster brannte Licht. Schon leckten die Scheinwerfer an dem Gebäude.
„Los!“, brüllte Mike von vorn, während er das Lenkrad nach links drehte, beschleunigte und auf den Bürgersteig raste.
Mit zitternden Fingern entlockte Derrel dem Feuerzeug eine Flamme und hielt, ohne weiter zu denken, die zuckende Flamme an das Tuch im Flachenhals.
„Scheiß Ausländer, hau ab!“, brüllte er und warf. Die Worte schmerzten, als er sie rief. Rissen tiefe Furchen der Scham in seinen Kehlkopf.
Die Flasche schlug krachend in eines der Fenster und wie bei einem Feuerwerk sprühten plötzlich die Funken umher.
Mike gab Gas und Derrel sah durch die Heckscheibe, wie die ersten Flammen gierig im Innern des Ladens emporstiegen. Zu spät sah er Tom. Tom, der hätte schon weg sein müssen.


Toms Geschichte

Er hätte den Laden schon vor Stunden schließen können. Und offiziell hatte er seit über einer halben Stunde geschlossen. Doch weshalb sollte er schließen? Um den Freitagabend allein in seiner 1-Zimmerwohnung auf dem Sofa zu verbringen, zu müde, um noch etwas mit seinen Freunden zu unternehmen. Tom seufzte. Da konnte er auch hier in seinem Laden stehen und auf Kundschaft hoffen. Die Hoffnung stirbt zuletzt, dachte er bitter. Denn bis auf wenige Stammkunden verirrten sich schon lange keine Kunden mehr in seinen Comicladen.
Als er die kleine Katze vor seiner Ladentür sitzen saß, stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Jetzt wusste er, warum er noch nicht gegangen war. Seit zwei Wochen kam die Katze regelmäßig kurz vor Feierabend. Er öffnete die Tür und schwups strich das Tier an seinen Beinen vorbei in den Laden. Anfangs war die rot-schwarz getigerte Katze schüchtern gewesen, doch mittlerweile huschte sie in den Laden und schritt schurstracks in den hinteren Teil des großen rechteckigen Raumes.
„Na, Tigerin.“
Die Katze antwortet mit einem leisen Miauen.
Tom schloss die hintere Tür im Laden auf. Sie führte in einen kleinen, fensterlosen Aufenthaltraum. Die Deckenlampe baumelte über einem schlichten Metalltisch, an dem ein verlassener Stuhl stand. Das Tier gab ein leises Mauzen von sich und strich Tom schnurrend um die Beine.
Tom griff in das Regal links an den Wand und angelte eine Packung Katzenfutter vom obersten Regalbrett. Er schüttete das Trockenfutter direkt auf den Fußboden und die Katze machte sich genüsslich darüber her.
Tom ließ sich auf den Stuhl fallen und betrachtete das Tier. Sein Fell wirkte gepflegt und auch wenn es am Anfang schüchtern war, so hatte es doch sicher einen Besitzer. Oder es hatte einen Besitzer gehabt, dachte er. Gestern Abend hatte das Tier den Laden nicht verlassen wollen. Tom hatte die Katze hinaustragen müssen. Wusste sie nicht wohin?
Die Katze hatte alle Klumpen und Krümel verputzt und sprang auf Toms Schoß. Ihr kleiner Körper schmiegte sich an ihn und Tom spürte die Kälte von draußen, die dem Tier noch in den Gliedern saß. Das Schnurren der Katze ließ den Kehlkopf und den Körper vibrieren und Tom beobachtete, wie das Tier die Augen schloss. Seine Finger strichen sanft über das Fell.
„Das gefällt dir, nicht wahr? Weißt du, wenn du weiter zu mir kommst, werde ich dich mit zu mir nach Hause nehmen. Was hältst du davon?“
Die Antwort war ein wohliges Schnurren.
Seufzend erhob Tom sich und die Katze kuschelte sich auf das alte Handtuch, das unterm Tisch lag. Sie hatte nicht vor, wieder hinaus in die Kälte zu gehen.
„Ach was soll es. Bleib heute Nacht hier. Morgen komme ich wieder und lass dich raus.“
Tom wollte die Katze nicht mit nach Hause nehmen, ohne vorher seinen Vermieter um Erlaubnis zu fragen. Er löschte das Licht, ließ die Tür des Aufenthaltraumes ein Stück weit offen und ging zur Ausgangstür.
„Hey Tigerin, letzte Chance. Ich gehe!“
Das Tier machte keine Anstalten, ihm zu folgen. Tom trat nach draußen. Eisige Winterluft umfing ihn und brannte in seinen Lungen. Mit zitternden Fingern wollte er gerade die Tür abschließen, als hinter ihm der Motor eines Wagens aufheulte. Als er sich umblickte, sah er einen schwarzen Kombi, der von der Straße auf den Bürgersteig bretterte und auf seinen Laden zuhielt. Etwas flog durch die Luft, gefolgt von dem Klirren zersplitternden Glases. Im gleichen Augenblick loderten Flammen im Inneren seines Ladens auf. Das Dröhnen des Motors entfernte sich und das Knistern der Flammen lag bedrohlich in der Luft.
„Die Katze“, durchfuhr es Tom. Er riss die Tür auf und hörte das ängstliche Miauen des Tieres. Mit schnellen Schritten durchquerte Tom die Ladenfläche. Dicker Rauch hing bereits im Raum, nahm ihm die Sicht und fraß sich in seine Lungen. Tom quälte sich vorbei an brennenden Regalen, in denen bunte Comichefte von unsichtbaren Fingern aufgeblättert wurden, während die Seiten brennend zu Asche zerfielen. Seine Augen brannten. Der Qualm drang in Toms Lungen und ließ in heftig husten.
„Tigerin“, krächzte Tom.
Er fand das Tier zusammengekauert hinter der Tür des Aufenthaltraumes. In Toms Rücken loderte das Feuer. Schnell griff er nach der Katze, hastete in das Ladeninnere zurück und bahnte sich einen Weg zum erstbesten Fenster. Sein Atem ging keuchend. Eine schmerzende Hustenattacke zwang ihn in die Knie. Er robbte zum Fenster und schaffte es, den Hebel umzulegen und die Scheibe aufzuschieben. Das Tier sprang in die kalte Nachtluft hinaus.
Tom wollte sich hochziehen, doch seine Hände und Beine gehorchten ihm nicht. Das Brennen in seiner Lunge zwang ihn zu Boden. Schweiß rann ihm über das Gesicht.
„Bleib wach, steh auf“, befahl er sich, aber seine Augen gehorchten ihm nicht. Langsam wurde es dunkel um ihn herum und das Rauschen der Flammen verstummte in der Dunkelheit.


Das Ende der Geschichten

Warum? Derrel fand keine Antwort auf seine Frage. Während der Pastor in knappen Worten etwas über den Lebensweg von Tom erzählte, öffnete und schloss Derrel seine Hand. Sein Mantel verdeckte die roten Striemen am Handgelenk, die sich auf seiner schwarzen Haut deutlich abzeichneten. Die emporzüngelnden Flammen hatten sich in seine Haut gefressen, als er das mit Benzin getränkte Tuch entzündet hatte. Bei jeder Bewegung schmerzte es. Der Schmerz fühlte sich real an, während alles andere seltsam fremd und unwirklich erschien. Warum war Tom zurück in den Laden gegangen? Es gab einfach keinen Grund. Mit dem Geld der Versicherung hätte er noch mal von vorne anfangen können.
Mike und er hatten es sorgsam geplant. Natürlich hatten sie Tom nicht eingeweiht. Er war viel zu ehrlich. Sie hatten ihm einen Gefallen tun wollen. Warum nur, warum ist er zurück in den Laden gegangen?

Letzte Aktualisierung: 25.12.2014 - 19.29 Uhr
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