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Wen(n) wir lieben | Dezember 2014

Das Spiel des Lebens
von Marcel Porta

Die Kinder haben mir zu Weihnachten ein Spiel geschenkt. Den Namen kann ich mir nicht merken, es ist ein ausländisches Wort. So ähnlich wie Kinderbild. Aber vielleicht fällt es mir ja wieder ein.
„Ein klasse Spiel“, meinen Andrea und Werner, „total einfache Regeln und trotzdem ist jeder Durchgang wieder anders. Es ist sogar Spiel des Jahres.“
Das stimmt mich bedenklich. Das letzte ‚Spiel des Jahres‘, das Werner angeschleppt hat, verlangte so viel Fingerfertigkeit, dass meine von Rheuma geplagten Hände völlig überfordert waren. Wir haben es nur ein einziges Mal gespielt, seitdem liegt es in der Schublade. Neben den anderen prächtig ausgestatteten Spielen … frühere Weihnachtsgeschenke.

Während ich den Teepunsch serviere und mir der heimelige Duft von Zimt und Johannisbeeren in die Nase steigt, packen die Kinder das Geschenk aus. Sie drücken die vielen Einzelteile aus den vorgestanzten Platten. Was da nicht alles zum Vorschein kommt. Gezackte Riesenteile, jede Menge kleine Plättchen, auf denen ich selbst mit Brille kaum etwas erkennen kann, halbrunde Teile mit Zacken und seltsamen Symbolen drauf.

„Jeder bekommt eine Farbe, und dann geht‘s los. Wir erklären es dir, während wir spielen“, sagt Werner. Also fangen wir an.
Ich bekomme etwa 40 Männchen oder Häuser, oder was auch immer das sein soll, sowie eine Karte in die Hand gedrückt. Spielkarten gibt es nämlich auch noch eine Menge. Sogar zwei verschiedene Sorten.
Während ich die einzelne Karte in meiner Hand verständnislos anstarre, bauen die Kinder aus den zackigen großen Teilen ein Spielfeld zusammen. Sie brauchen dazu nur vier der Teile, der Rest wandert wieder in die Schachtel. Eine grandiose Verschwendung! So groß, wie diese Teile sind, kann man sie doch nicht haufenweise verlieren. Ein Ersatzteil hätte dicke gereicht! Das ist doch nur Geldmacherei vom Spielefabrikanten!

„Wir müssen jetzt noch die Ziele festlegen“, informiert mich Andrea. Erstaunt schaue ich sie an. Wenn bei einem Spiel das Ziel nicht feststeht, braucht man doch gar nicht erst anzufangen. Doch da werde ich eines Besseren belehrt.
„Hier, zieh mal drei Karten.“ Ja, das sind sie also, die Ziele. Sie beziehen sich alle auf das Spielfeld, auf welches man jetzt bald die Häuser platzieren muss. Viel wird auch über die vier Quandranten geredet, die man einerseits gleichmäßig belegen soll, andererseits aber auch wieder nicht. Und möglichst alle in einer Reihe, aber zudem auch in möglichst viele Reihen. Bahnhöfe gibt es allerdings keine, obwohl ich nur Bahnhof verstehe.
Aber egal, ich will endlich anfangen. Doch so einfach ist es dann doch nicht, denn es gibt noch einiges zu erklären über die Quandranten. Vier halbrunde Teile und etliche Plättchen werden auf das Spielfeld gelegt. Auch hier wieder eine verrückte Ausstattung, die meisten Teile sind schlicht überflüssig.

„Du musst als Erstes versuchen, die Plättchen zu ergattern, dann hast du mehr Möglichkeiten“, meint Andrea, und Werner erklärt jedes einzelne der bunten Teilchen.
„Bei dem hier darfst du zusätzlich … bei diesem darfst du von A nach B verschieben … bei dem da musst du …“
Ein ziehender Schmerz und ein quälendes Bohren machen sich in meinem Kopf bemerkbar. Krampfhaft halte ich mich an meiner Tasse mit dem heißen Teepunsch fest. Wenn ich ihn in kleinen Schlucken trinke, wird es besser.
„Wo willst du denn hin?“, fragt Andrea irritiert, als ich aufstehe und in die Küche gehe.
„Ein paar Plätzchen holen, ich brauche etwas zur Stärkung“, sage ich und genieße es, in der Küche einen kleinen Teller herzurichten. Ein paar Bauernhüte, Kokosmakronen und die allseits beliebten Bärentatzen. Die Zimtsterne sind schon fast alle weggegessen, davon platziere ich nur wenige auf den Teller. Stundenlang habe ich in der Küche gestanden, um all die Lieblingssorten meiner beiden Kinder zu backen. Aber ich backe gerne, das macht mir Spaß, und für die Kinder tu ich sowieso alles. Manchmal viel zu viel sagt Andrea, aber was weiß die schon davon, Mutter zu sein. Sie wollte keine Kinder, darüber bin ich immer noch nicht hinweg.

Als ich den Teller auf den Tisch stelle, greifen alle zu. Darüber freue ich mich und das Kopfweh lässt nach.
„Du musst dir vor allem merken: Wenn der Pfeil gebogen ist, darfst du zusätzliche Häuser einsetzen, wenn er gerade ist, nicht. Dann darfst du nur etwas mit den bereits vorhandenen Häusern machen.“
Verdammt und zugenäht, während des ganzen Spiels überlege ich immer wieder, was ich bei welchem Pfeil darf. Ich kann es mir einfach nicht merken.
„Können wir nicht einfach Mau-Mau spielen?“, schlage ich vor.
„Aber Mama, jetzt haben wir gerade alles aufgebaut und erklärt …“
Natürlich gebe ich mich geschlagen, obwohl ich immer noch lieber Mau-Mau spielen würde. Oder Halma.

„Jetzt bist du dran, Mama.“
Ich habe keinen Schimmer, was von mir erwartet wird. Aber irgendwie müssen die Männchen oder Häuser oder was auch immer aufs Spielbrett, soviel weiß ich noch. Zudem stehen schon welche von Andreas Farbe darauf. Also nehme ich ein Männchen und platziere es bescheiden links unten in die Ecke.
„Aber Mama, dahin doch nicht! Dort hast du doch gar keine Vorteile davon. Zudem musst du drei setzen.“
Oh weh, das hatte ich schon wieder vergessen. Aber wohin damit. Etwas zögerlich versetze ich das Männchen ein paar Felder weiter nach rechts und schiebe die beiden anderen vorsichtig daneben.
„Fast richtig“, kommentiert Werner. „Nur müssen alle auf demselben Gebiet stehen, und du musst beachten, dass …“
Am liebsten möchte ich fragen, was Trumpf ist … oder ob ich im Schach stehe. Aber ich weiß, dass den beiden diese Art Humor abgeht, da kommen sie weder nach mir noch nach Heinz. Was haben wir beide über uns selber lachen können!

Wer hat sich nur dieses blöde Spiel mit den doofen Quandranten ausgedacht. Mir ist schwindelig. Und elend.
„Jetzt musst du aufpassen, Mama“, belehrt mich Andrea, „wenn du geschickt setzt, bekommst du acht Punkte auf einen Streich.“
Ja, geschickt, ein Attribut, das zu Andrea passt. Schließlich ist sie Managerin in der hiesigen Wurstfabrik, zuständig für die richtige Etikettierung der Dosen. Damit nicht in einer Weißwurstdose Bierwurst landet, oder in einer Maiskölbchendose Senfgurken. Obwohl, wenn ich es recht überlege, machen die nur Wurst, also keine Gemüsedosen. Oder hab ich da schon wieder was verwechselt? Egal, sie ist wichtig in der Firma, das hat sie selbst gesagt. Und geschickt war sie schon immer, wenn ich nur an ihre Topflappen denke, da war sie schon mit acht eine kleine Meisterin. Ich war richtig stolz auf sie.
Aber warum sie mich jetzt so anfahren muss, weil ich schon wieder einen Stein an die falsche Stelle gesetzt habe, verstehe ich nicht. Was haben Heinz und ich Geduld aufgebracht, bis sie Mau-Mau spielen konnten?! Immer wieder und wieder haben wir erklärt, was Herz und Pik ist, und was passiert, wenn man die Sieben legt. Ja, Heinz war eine Seele von Mann, wenn er doch noch da wäre! Er würde mich niemals so abkanzeln! Andrea kann schon ein richtiges Biest sein. Und das an Weihnachten!

Oh je, ich bin schon wieder dran und muss Steinchen setzen. Drei Stück, das weiß ich inzwischen. Unsicher schaue ich Werner an, vielleicht kann er mir einen Tipp geben? Er ist ein Verstandesmensch, durch und durch. Sitzt stundenlang vor seinem PC und stiert hinein. Irgend so ein hochgeistiges Zeug. Eiti nennt man das, oder so ähnlich. Ich hab ja keine Ahnung davon, das sind Bücher mit unzähligen Siegeln für mich. Aber er verdient nicht schlecht damit, das ist die Hauptsache. Nur macht er sich das Kreuz kaputt mit dem ständigen Sitzen am Schreibtisch. Wie oft hab ich ihm schon gesagt, er soll doch gerade sitzen, aber genauso gut könnte ich es in den Wald am oberen Forst rufen. Er hat noch nie gemacht, was ich ihm gesagt habe. Selbst Heinz war da machtlos. Eigensinn in Reinkultur hat Heinz immer gesagt und den Kopf geschüttelt.

Endlich ist das Spiel aus. Und natürlich habe ich haushoch verloren. Das ist gut so, die beiden gewinnen ja so gerne. Und vielleicht muss ich dann nicht mehr mitspielen. Oder noch besser, wir spielen jetzt zusammen Mau-Mau … oder Mensch ärgere dich nicht. Könnten sie doch mir zuliebe … ausnahmsweise mal … oder?

© Marcel Porta, 2014
Version 2

Letzte Aktualisierung: 26.12.2014 - 12.40 Uhr
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