Der Tod aus der Teekiste
Der Tod aus der Teekiste
"Viele Autoren können schreiben, aber nur wenige können originell schreiben. Wir präsentieren Ihnen die Stecknadeln aus dem Heuhaufen."
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Ziele | Januar 2015
Die Stadt
von Eva Fischer

Aus dem iPhone erklingt indische Musik. Wir werden gebeten, die Augen zu schließen, alles loszulassen, uns ganz leer zu machen, denn erst dann können wir uns wieder füllen.
Was soll ich loslassen?
Ich kenne kein Kindergeschrei, keinen cholerischen Chef mehr, keine kaufsüchtige Ehefrau. Aber ok, irgendetwas wird mir schon einfallen, was ich loslassen kann. Vielleicht den vermaledeiten Wunsch, endlich einmal eine Geschichte zu Papier zu bringen, aber deswegen bin ich schließlich hier.
Das Thema ist die Stadt. Was das mit Indien zu tun hat, kriege ich gerade nicht auf die Reihe.
Nachdem wir die Augen wieder geöffnet haben, greifen wir wahlweise zum Füller oder Kuli, die Vorsichtigen zum Bleistift. Ein Poster wie aus Kindertagen lächelt uns aufmunternd von der Wand zu. Viele Häuser, viele Straßen, viele Autos, viele Menschen.
„Und nun habt ihr Zeit, euren Schreibfluss fließen zu lassen.“
Obwohl die Stimme uns weich umgurrt, löst sie bei mir Herzrhythmusstörungen aus, die sich schlagartig verstärken, als wie auf Kommando nur noch das Kratzen von Stiften auf Papier zu hören ist. Ich schiele auf das Blatt meiner Nachbarin, das sich in Windeseile füllt.
Je länger sie schreibt, desto heftiger scheint das Blut durch ihre Adern zu pulsieren, was erklärt, warum sie mitten im Winter ein offenes Dekolletee trägt,während ich trotz Rollkragenpulli fröstle und kaum der Versuchung widerstehen kann, auf meinem Stift herumzukauen, in der Hoffnung, aus ihm eine geniale Idee zu saugen. Ach, ich wäre ja schon mit einem Anfang zufrieden!
Assoziationen sind wichtig! Unterschiedliche Menschen, in unterschiedlichen Wohnungen, mit unterschiedlichen Schicksalen.
Schrecklich weit hat mich das jetzt auch nicht gebracht. Ich soll mich in so ein Schicksal hineinversetzen. In das des Fifty-Fifty Verkäufers? Oder in das des schicken Porschefahrers, der sein Schiff hinter sich herzieht? Oder in das des Kindes, das gerade eine Scheibe beim Fußballspiel zerdeppert hat? Oder in das der jungen Frau mit dem Minirock, der die Männer hinterhersehen?
Beim genaueren Betrachten entdecke ich auf dem Poster noch einen Eisverkäufer, einen Polizisten, einen einsamen alten Mann, eine dicke Frau mit Mops, einen Mopedfahrer...
Ich muss mich entscheiden, was offensichtlich nicht zu meiner Kernkompetenz zählt. Den Kopf wage ich kaum zu heben, denn dem nachsichtigen und aufmunternden Lächeln meines weiblichen Gurus möchte ich jetzt lieber nicht begegnen.
Ich schraube meinen Füller auf und versuche mich in Goethe hineinzuversetzen oder in Ken Follet oder in Bastian Bielendorfer. Was der kann, der junge Schnösel, das müsste mir doch auch gelingen. Hatte Goethe schon einen Füller? Schreibt der Basti nicht auf einem Laptop? Kurt, du musst dich leermachen, ermahne ich mich und dann gehe ich erst einmal aufs Klo.

Brigitte darf zuerst vorlesen. Die ersten zehn Minuten bewundere ich ihren Blick für das Detail. Die nächsten zehn Minuten kann ich meine Gähnmuskeln kaum unter Kontrolle halten. Nach dem Ende der Geschichte und nach einer gefühlten Ewigkeit sollen wir uns dazu äußern. Ich sage ihr nicht, dass ihr Plot sterbenslangweilig ist, und es sagt ihr auch sonst niemand. Jeder lobt ihren Blick für das Detail, auch ich.

Die Dekolletee-Dame heißt Nora und ihre Geschichte ist so heißblütig wie ihre Brustansätze, die rosig hervorlugen. Sie schreibt von einem Mann, der ein Leben lang Schmetterlinge aufgespießt und gesammelt hat, anstatt sich dem wirklichen Leben zu widmen. Doch dann erscheint die neu eingezogene Nachbarin mit einem Glas Begrüßungschampagner auf der Matte und entstaubt den traurigen Witwer. Ihre Beschreibung passt irgendwie zu Nora, der ich auch ohne weiteres zutraue, einen Mann aus der Reserve zu locken. Wir sind alle ganz gerührt, nachdem sie geendet hat, und ich ertappe mich bei der Frage, ob ich vielleicht nicht Ähnlichkeiten mit ihrem Prota habe. Allerdings wartet eine Ehefrau daheim auf mich.

Daniela schreibt aus der Sicht eines alten Hauses. Interessanter Perspektivwechsel, finden wir alle, auch wenn die Umsetzung der Idee sie wohl viel Zeit gekostet hat, denn die eigentliche Geschichte ist recht kurz, noch ausbaufähig, wie Daniela selbst zugesteht, aber was kann man schon in 45 Minuten schreiben, wenn man nicht gerade unter Starkstrom steht wie Nora.

„Möchtest du uns nicht auch deine Geschichte vorlesen, Kurt!“
Nein, möchte ich eigentlich nicht. Mir fehlen jegliche Details, mir fehlt ein interessanter Plot, auch das Setting steckt noch im Rohbau.
Mit einem Blick auf die Uhr meint unser Guru bedauernd. „Oh wie schade! Die Zeit ist schon wieder vorbei. Vielleicht das nächste Mal, Kurt.“
Ich nicke und bin dankbar, dass ich eine Woche Aufschub bekommen habe.

Wenige Stunden zuvor hatten sich die Straßen noch wie bunte Perlen durch das Dunkel der Nacht gezogen, scheinbar endlos. Nun, da er wieder Boden unter den Füßen und die Sonne einen neuen Tag geschenkt hatte, durchschritt er die alt vertrauten Plätze. 40 Jahre hatte er abgesessen auf Bürostühlen, die seinen Rücken geknechtet hatten. Nun war er endlich wieder frei wie in seiner Jugend, als er im blauen Haus dort drüben Currywurst mit Pommes gegessen hatte. Mia hieß seine Angebetete damals. In den Toreingängen hatten sie sich herumgedrückt und geknutscht. Eine Runde Küssen vor der Wurst und eine Runde danach, wobei ihr Speichel köstlich nach Cola schmeckte. Was war aus Mia geworden? Würde er sie überhaupt noch wiedererkennen?
Die Currywurstbude war verschwunden. Stattdessen bot ein Thai seine Kochkünste an. Selbst wenn man Mark und Euro eins zu eins umrechnete, waren die Preise enorm gestiegen.
An der Ecke, wo man einst seine dreckige Wäsche waschen konnte, hatte ein Frisörladen aufgemacht. Ein edles Ding, ganz in weiß gehalten, wo die Kundinnen wahlweise einen Cappuccino oder ein Gläschen Sekt angeboten bekamen, damit sie beim Blick in den Spiegel nicht ihre Contenance verloren.
Er suchte den Platz zwischen den Häusern, wo er einst mit Karl Fußball gespielt hatte. Die Lücke hatte ein Mehrfamilienhaus geschlossen, durch ein kupfernes Gitter von der Außenwelt abgeriegelt. Er schaute auf die blitzblanken Messingschilder. Keiner der Namen kam ihm vertraut vor.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite öffnete sich eine Tür und eine Frau trat auf die Straße. Nur kurz konnte er ihr Gesicht sehen. Dann drehte sie ihm den Rücken zu und er hörte ihre Schritte auf dem Asphalt. Der Gang verriet, dass ihr irgendetwas zu schaffen machte. Die Hüfte? Die Knie? Der Rücken?
War es Mia gewesen?Verdammt, er musste ihr hinterher, aber plötzlich hielt ein grauer Audi neben ihr. Ein junger Mann öffnete die Türe und sie stieg zu ihm, küsste ihn auf die Wangen. Vielleicht ihr Sohn?


Sie hängen tatsächlich an meinen Lippen, während ich meine Geschichte vorlese.
„Schon Schluss?“, kommt es etwas schnippisch von Nora. Dabei habe ich doch extra eine zarte Liebesgeschichte eingebaut.
Wer will denn genau wissen, was passiert, wenn mein Prota seine Mia findet? Die Phantasie ist es, die einem Plot Spannung verleiht, und die überlässt man am besten dem Leser oder dem Zuhörer.
„Ein netter Anfang“, lässt sich nun auch der Guru hören.
„Kennst du Patrick Modiano?“, fragt sie
Muss ich den kennen, denke ich, kann mich aber nicht zu einer entblößenden Antwort durchringen.
„Er hat den Nobelpreis für Literatur 2014 bekommen.“, klärt sie mich nun ungefragt auf.
„Er lässt seine Protagonisten durch die Stadt streifen auf der Suche nach der Vergangenheit, die sich natürlich unauffindbar verflüchtigt hat.“
„Natürlich“, stimme ich ihr zu, ohne den Zusammenhang mit meiner Geschichte zu erkennen.
„Du solltest mal ein Buch von ihm lesen.“
Aha, es gab auch keinen Zusammenhang.

Meine Ehefrau Mia hat sich schick gemacht. Dabei wird sie heute die teure Zeche vom Thailänder zahlen müssen, da sie eine Wette verloren hat. Ich habe nämlich meinen Schreibkurs durchgehalten, was mir Mia nicht zugetraut hat.
Mit glänzenden Augen sieht sie mich an.
„Kurt, dass du mal Geschichten schreibst, das hätte ich nie gedacht.“
Als Schriftsteller steht man eben bei der Damenwelt hoch in Kurs.

Letzte Aktualisierung: 06.01.2015 - 19.19 Uhr
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