Bitte lächeln!
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Ziele | Januar 2015
The Distance of Love
von Jochen Ruscheweyh

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragt meine Sitznachbarin, als der Zug anfährt und ich instinktiv Halt an der Lehne des Vordersitzes suche. Um das kunstlederbezogene Kopfteil herumgreifen zu können, vermittelt mir, dass ich zumindest ein Rest-Maß an Kontrolle besitze, meine Position und den Verbleib im Jetzt zu behaupten. Wobei das Gefühl mich aufzulösen immer stärker in mir aufsteigt. So etwas ist mir noch nie passiert.
„Nein“, stöhne ich.
„Sind Sie Pendler?“
Ich nicke: „Seit sechzehn Jahren.“
„Okay ... okay, verhalten Sie sich ruhig. Ich weiß, was Ihnen fehlt.“
„Sie sind ja lustig!“, presse ich hervor und kralle mich dabei tiefer in das Kunstleder.
„Reißen Sie sich einfach zusammen und stehen Sie auf. Doch, Sie können das! Keine Widerrede.“
Ich drücke mich hoch. Gleichzeitig fühlt es sich an, als würde ich im PVC Belag des Zuges versinken.
„Nehmen Sie meine Hand.“
Ich folge ihr - oder vielmehr zieht sie mich - Richtung Ausstieg.
„Stellen Sie sich quer!“
„Wie?“
„Stellen Sie sich quer zur Fahrtrichtung!“
„Was soll das bringen?“, fahre ich sie an.
Sie antwortet nicht, aber ich merke, wie sie mich behutsam und dennoch mit Nachdruck in die entsprechende Position schiebt.
Wie ein Unterzuckerter, dem man eine Glukose-Infusion anhängt, strömt die Lebensenergie zurück in meinen Körper.
„Es ist nicht mehr weit bis zum nächsten Halt, wir steigen aus!“ Es klingt mehr wie ein Befehl als nach einer Feststellung.

Draußen lasse ich mich auf eine Bank am Bahnsteig fallen.
„Sie hätten aber nicht ...“, beginne ich.
„Ich wollte aber“, schneidet sie mir das Wort ab und nimmt neben mir Platz. „Ich habe ohnehin nichts Besonderes vor, außer, dass ich auf der Suche nach meiner Cousine Kimberley bin.“
Ich nicke, als würde ich es nachvollziehen können, obwohl ich noch nie auf der Suche nach jemandem gewesen bin. „Was ... was ist da drinnen gerade passiert?“, frage ich.
Sie lehnt sich zurück und legt ihren Arm hinter mich auf das Rückenteil der Bank.
„Es sieht so aus“, schlussfolgert sie, „als wäre es für Sie vorbei mit Pendeln.“
„Nein, das ist vollkommen unmöglich. Ich muss ja weiterhin zur Arbeit.“
„Na, wenn Sie meinen.“
Ich will noch etwas hinzufügen, aber ein Güterzug fährt durch. Mit ihm erfüllt ein metallisches Rattern, Schleifen und Klirren den Bahnsteig. Es macht keinen Sinn, dagegen anzureden.

„Hören Sie, ich bin sechzehn Jahre auf dieser Linie gefahren, ich habe einen unbefristeten Arbeitsvertrag und wenn es nach Vater Staat geht und die Konjunktur mitspielt, dann kommen da nochmal locker 30 drauf.“
Sie schüttelt den Kopf. „Das sehen Sie falsch. Der Mensch ist weder zum Pendeln noch zum Reisen geboren. Jedem steht nur ein bestimmtes Kontingent an Kilometern zu und scheinbar ist Ihres aufgebraucht.“
„Das ist doch Blödsinn!“, platze ich heraus, „was ist denn mit den Nomaden?“
„Ausnahmen.“
„Und den großen Entdeckern? Marco Polo zum Beispiel!“
„Einzelfälle. Außerdem: Kennen Sie dieses berühmte Gemälde von Marco Polo, das in der Tate-Galerie hängt und ihn zeigt, wie er parallel zur Länge des Schiffes steht?“
„Aber das ist doch auch Fortbewegung.“
„Natürlich“, antwortet sie, „aber kurzfristig können Sie ihren Körper damit täuschen.“
„Ach“, entfährt es mir, „deshalb sollte ich mich vorhin quer zur Fahrtrichtung stellen?“
„Schlauer Junge“, sagt sie, schlägt mit der Hand auf meinen Oberschenkel und lässt sie gleich dort liegen.
Ich überlege einen Moment, ehe ich frage: „Hängt es denn von der Geschwindigkeit des Transportmittels ab?“
„Nein“, gibt sie zurück. „Ich denke nicht.“
Ich ertappe mich dabei, wie ich einem Fünftklässler gleich mit Daumen und Zeigefinger schnippe, als mir das definitive K.O.-Kriterium für ihre Theorie einfällt: „Mein Vater und mein Großvater sind Pendler gewesen, jeder fast 40 Jahre und wir tragen ja schließlich die gleichen Gene in uns.“
Sie rückt näher an mich heran, ohne die Hand von meinem Bein zu nehmen. „Das könnte zum Einen bedeuten, Sie wären adoptiert und wüssten es lediglich nicht.“
„Ausschlusskriterium, weiter!“, tue ich ihren Einwand ab.
„In Ordnung. Zum anderen: Waren Ihr Vater und Ihr Großvater verheiratet oder hatten sie eine Beziehung?“
„Ja sicher, sonst gäbe es mich ja wohl kaum.“
„Na, sehen Sie?“
„Was?“
Sie stöhnt: „Also gut, ich gehe nicht unbedingt damit hausieren, aber ich weiß sowas, weil ich eine Strecken-Elfe bin.“
„Eine Strecken-Elfe? Na, da lach ich ja mal richtig kräftig durch! Was soll das denn sein?“, platze ich heraus.
Ein Lächeln tritt auf ihr Gesicht: „Sie glauben mir nicht?“
„Entschuldigung, aber ... nein.“
„Okay, sehen Sie das Signal dort?“
Sie macht eine rasche Handbewegung und es springt um.
Ich schüttele den Kopf. „Sie haben es doch schon die ganze Zeit aus dem Augenwinkel beobachtet. Sie wussten, dass es umspringen würde.“
„Wenn Sie meinen.“ Sie wiederholt die Handbewegung ein paar Mal, das Signallicht folgt, wechselt zwischen Rot und Grün hin und her.
„Oh verdammt, machen Sie das wieder richtig. Ich meine, so wie es ursprünglich war.“
Sie zieht einen Flunsch: „Das weiß ich nicht mehr.“
„Sind Sie wahnsinnig? Das kann eine Katastrophe geben. Scheiße, was machen wir denn jetzt nur?“
Sie kneift in meinen Oberschenkel. „Jetzt regen Sie sich mal wieder ab, es wird schon alles gut sein.“
Aus der Ferne höre ich einen Schnellzug kommen. „Sind Sie sicher?“
„Nun ja“, sie kratzt sich am Kopf, „absolut sicher kann man sich bei solchen Sachen nie sein. Es könnte auch sein, dass ich gleichzeitig die Weiche mitgeschaltet habe. Dann entgleist der Zug und zermatscht uns zu Strecken-Brei.“
„Das scheint Sie gar nicht zu stören?“, werfe ich ein.
Sie zuckt mit den Schultern: „Es gäbe sicher Menschen, mit denen ich weniger gerne zerquetscht werden würde als mit Ihnen.“
„Ich fühle mich geschmeichelt. Nur nützt mir das leider nichts, wenn ich ... wenn wir ... wie haben Sie es genannt? Streckenbrei sind. Los, kommen Sie!“
Ich springe auf und reiße sie hinter mir her, weg vom Bahnsteig. Wir sind keine fünfundzwanzig Meter entfernt, als ein ICE durchschießt. Einen Moment lang glaube ich, ein helles Schleifen zu hören, dann bleibt allein das normale Geräusch des sich entfernenden Schnellzuges.
„Mach das nie wieder!“, herrsche ich sie an.
„Was?“
„Du weißt genau, was ich meine. Das mit dem Signal und der Weiche.“ Ich wende mich ab.
„Wo gehst du hin?“, fragt sie.
„Na, zum Bus!“, antworte ich.
„Das wird nicht funktionieren ...“
„Verdammte Scheiße!“, brülle ich und halte mir dabei die Hände wie eine Flüstertüte vor das Gesicht , „was muss man in diesem beschissenen Land eigentlich tun, um unbeschadet von A noch B zu kommen?“
Mit einem Mal steht sie vor mir, obwohl sie mich eigentlich nicht eingeholt haben kann.
„Hast du das immer noch nicht verstanden?“, fragt sie, macht einen Knutschmund und deutet mit dem Finger darauf.

Vielleicht ist der Kuss so unglaublich, weil ich noch nie vorher eine Strecken-Elfe geküsst habe. Vielleicht ist es aber auch wie sie sagt, vielleicht habe ich mein Kontingent an Kilometern einfach aufgebraucht und bin am Ziel angekommen.
Bei ihr.
Wer weiß das schon?

Version 1

Letzte Aktualisierung: 15.01.2015 - 08.50 Uhr
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