Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Ziele | Januar 2015
Bis ans Ende der Welt
von Silke Sarkander

Die Tür wurde temperamentvoll aufgestoßen. Augenblicklich stürmte Lydia über die Schwelle. Sie rief ausgelassen: „Hallo, ihr Süßen! Wie wundervoll, endlich wieder hier zu sein.“
Sie brodelte vor Energie und fesselte unwillkürlich unsere Aufmerksamkeit. Ich hatte es mir mit meinen Freundinnen auf dem Sofa gemütlich gemacht, bereits träge von all dem guten Essen.
Lydia dagegen schien nicht zu bremsen. Sie redete unbeeindruckt weiter: „Fast hätte ich meinen Flieger verpasst“, schwärmte: „Tokio war der Wahnsinn“, löste schließlich die rechte Hand vom Griff ihres riesigen Reisekoffers, den sie zuvor ächzend neben sich abgestellt hatte, warf beide Arme schwungvoll in die Luft und jubelte: „Der Vertrag ist auch unterschrieben.“
Wir blickten ihr neugierig entgegen, freuten uns mit ihr und lauschten gespannt ihren Worten.
„Ich habe sie alle umgehauen, war nett, charmant, dabei absolut seriös und habe knallhart verhandelt. Ihr hättet mich sehen sollen.“ Lydia zog uns in ihren Bann, wie sie dort mit leuchtenden Augen wild gestikulierend stand, in ihrem edlen, grauen Kostüm, mit den dunkelrot lackierten Fingernägeln.
Ich sprang freudig auf und lief ihr ein paar Schritte entgegen. „Hallo Lydia, schön, dass du es noch geschafft hast“, begrüßte ich sie überschwänglich. Ich bewunderte sie, heute noch genauso wie damals in der Schule.
Sie lächelte mich an. „Wo denkst du hin? Deinen Geburtstag werde ich doch nicht verpassen. Jedenfalls nicht, wenn ich es irgendwie einrichten kann. Letztes Jahr steckte ich leider in San Francisco fest.“ Ihre Mundwinkel zogen sich für einen Moment bedauernd nach unten, bevor sie mir stürmisch um den Hals fiel.
„Herzlichen Glückwunsch, meine allerliebste Maria“, dabei riss sie mich eng an sich, aber wiederum nicht so eng, dass sie Gefahr lief, ihre schicke Designerbluse zu zerdrücken. Sie trat einen Schritt zurück, um mich eingehend betrachteten zu können. „Gut siehst du aus, so erholt, so entspannt, so bodenständig. Das würde ich mir auch wünschen.“
Soso, bodenständig, dachte ich bei mir. Wie wäre es gleich mit langweilig? Zögernd ließ ich mich zurück auf das Sofa plumpsen, umringt von meinen Freundinnen, die Lydia weiterhin andächtig lauschten.
Sie schwärmte gerade von ihrer Begegnung mit Christoph Waltz in einem New Yorker In-Restaurant. Das war eben Lydia. Ich schmunzelte in mich hinein. Eine bemerkenswerte Frau mit einem Vorstandsposten bei einer großen Bank. Sie hatte es weit gebracht, reiste durch die ganze Welt und kannte Glamour nicht nur aus den Illustrierten.
„Herzchen, hörst du mir überhaupt zu?“, unterbrach sie meinen Gedankengang.
„Immer“, log ich, setzte ein breites Lächeln auf und widmete mich meinen Pflichten als eifrige Gastgeberin. „Setzt dich erst einmal hin“, schlug ich vor. „Du musst müde sein, nach dem langen Flug.“
Auf ihrem Gesicht erschien ein Grinsen. „Nein, das nicht. In der 1. Klasse schläft es sich sehr angenehm. Aber ich sterbe vor Hunger.“ Sie zog die Stirn demonstrativ in Falten und hauchte dramatisch: „Hast du diese leckeren Törtchen gezaubert? Schokoladen-Himbeercreme, mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen, wenn ich nur daran denke. Ich habe mich schon die ganze Woche darauf gefreut. Hausgemachten Kuchen findet man nicht leicht, wenn man ständig unterwegs ist.“
„Steht alles in der Küche“, antwortete ich gönnerhaft, während ich mich anschickte sie zu begleiten. Doch Lydia wiegelte fröhlich ab. „Nein, bleib du ruhig hier, lass dich beim Feiern nicht stören. Ich esse nur schnell etwas und leiste euch später wieder Gesellschaft.“
Während ich fahrig nickte, folgte ihr mein Blick, wie sie mit ihrer wohlgeformten Figur auf ihren hohen Absätzen elegant in die Küche stöckelte. Eine tolle Frau, gab ich mir gegenüber unumwunden zu. Allerdings nicht ohne Neid, mir stach meine verwaschene Jeans in die Augen, die sich an den Hüften verdächtig ausbeulte. Auch ich mochte meinen Kuchen und Schokolade und überhaupt.

Lina schaute mich musternd von der Seite an. „Komm mir jetzt nicht mit Minderwertigkeitskomplexen“, fuhr sie mich sanft an.
Ich lachte laut auf. Lina kannte mich gut.
„Lydias Leben lockt mich nicht. Ganz alleine, immer auf Reisen, ohne Kinder, ohne Mann, ohne Heim. Das ist nichts für mich“, versuchte ich mich prompt zu rechtfertigen. Dennoch gestand ich ein: „Ich beneide Lydia um ihre Souveränität, um ihr selbstbewusstes, energiegeladenes Auftreten.“ Mit einem leichten Seufzen stellte ich beiläufig fest: „Sie beherrscht ihren Job und kann stolz darauf sein.“
Die anderen starrten mich ungläubig an. „Machst du Witze?“ Lina sprach aus, was augenscheinlich alle dachten. „Du bist ebenso gut.“
Meine Mädels bombardierten mich. „Dein Haushalt ist perfekt durchorganisiert“ kommentierte die eine, „Deine Kinder sind gut erzogen“ die andere. „Deine Torten sind ein Traum.“ So ging es weiter, bis Lina schließlich die etwas platten Argumentationsversuche meiner Freundinnen abschloss: „Wenn jemand stolz sein sollte, dann du.“ Dabei nickten alle hingebungsvoll in die Runde, als wollten sie nicht nur mich, sondern auch sich selbst überzeugen.
Zögernd räumte ich ein: „Stimmt schon, es funktioniert alles prima. Aber bei mir warten höchstens der Wäschetrockner oder die Spülmaschine. Es erfordert keine herausragende Leistung, beides ein- und später wieder auszuräumen.“ Ich zog die Augenbrauen hoch.
„Lydia verfolgte schon in der Schule hochtrabende Ziele. Sie kleidete sich mit Vorliebe im Businesslook und statt eines Rucksacks, wie wir anderen, trug sie eine Aktentasche mit sich herum.“ Ich atmete tief ein. „Mir hat sich dieses Ziel-Ding nie wirklich erschlossen. Doch auch ich wünsche mir Selbstbestätigung, das Gefühl der Genugtuung, gegen alle Widerstände seinen Weg zu gehen. Anerkennung, die motiviert und Lust auf mehr macht“, proklamierte ich pathetisch. Stoppte meinen Redefluss abrupt und schloss frustriert: „Der Alltag ist langweilig. Es ist nun wirklich keine Herausforderung, Carla pünktlich zur Schule zu bringen oder den Tomatenfleck aus Peters bestem Hemd zu entfernen.“
„Ich will meinen Sinn, ich will mein Ziel!“, jammerte ich übertrieben vor mich hin, verzog meinen Mund zu einem Grinsen und kicherte. Damit traf ich genau den Nerv meiner Freundinnen. Heute an meinem Geburtstag wollten sie feiern und sich vergnügen.
Als Lydia aus der Küche zurückkehrte, die Arme emporriss und gutgelaunt rief: „Kommt Mädels, lasst uns tanzen“, gab es kein Halten mehr.

In den nächsten Wochen ließ mich der Gedanke an eine Herausforderung nicht los. Ich war es leid vor mich hinzudümpeln und überlegte zurück in den Beruf zu gehen. Stundenlang saß ich vor meinem Computer, suchte unerbittlich nach interessanten Jobs oder Fortbildungen. Ich rannte von einem Beratungsgespräch zum anderen … bis mir die Luft ausging. Zum Schluss stellte ich resigniert fest: Eine Karriere passte nicht zu mir. Beruflicher Erfolg war etwas für Lydia, aber nicht für mich. Ich besaß eine Familie. Julian und Carla besuchten noch die Schule. Sie brauchten mich. Ich durfte nicht durch die Welt jetten.
Also ging die Suche weiter. Ein Hobby musste her. Nur welches? Fotografieren machte mir schon immer Spaß. Doch worin lag der Sinn, wenn die meisten Bilder nur auf der Festplatte vor sich hinschlummerten? Meine Familie verspürte schon längst keine Lust mehr, jedes neue Foto von mir zu bestaunen. Ihr kurzes Nicken brachte mir weder die Art Bestätigung, die ich mir gewünscht hätte, noch zählte es zu den besonderen Erfolgserlebnissen, souverän die Lichtverhältnisse zu prüfen und daraufhin die perfekte Blendeneinstellung auszuwählen, jedenfalls nicht für mich.
Es gab wichtigere Dinge. Julians Geburtstag musste organisiert werden und Carla schrieb eine Englischarbeit. Ihre Vorbereitung kostete mich Stunden, zusätzlich jede Menge Energie und Nerven, sodass ich mich abends geschafft vor den Fernseher fallen ließ. Rosamunde Pilcher, wie herrlich anspruchslos oder zur Abwechslung eine deutsche Produktion. Heute lief „Die Dienstagsfrauen“. Vier Frauen, die den Jakobsweg eroberten und sich selbst dabei von Tag zu Tag ein wenig näherkamen. Sie stellten sich den Anforderungen und marschierten Kilometer für Kilometer, bergauf, bergab, bei Regen und bei Sonnenschein schleppten sie ihre Rucksäcke. Beeindruckend, auch wenn es sich hier nur um eine Geschichte handelte.
Was wäre, wenn ich laufen würde? Ich ganz alleine, nur für mich. Die Frage hallte in meinem Kopf, verweilte, wurde zur konkreten Idee, die sich festsetzte.
Die nächsten Tage blätterte ich unermüdlich in Reiseführern und Bildbänden oder stöberte bis spät in die Nacht entschlossen im Internet nach Erfahrungsberichten.
Eine Woche später, kaufte ich mir ein Ticket.

Jetzt stehe ich voller Vorfreude mit leuchtenden Augen und gepacktem Rucksack am Bahnhof, wippe auf meinen Zehenspitzen hin und her. Mit meinen derben Wanderstiefeln an den Füßen werde ich in den nächsten sechs Wochen unermüdlich einmal quer durch Spanien bis ans Ende der Welt laufen, zu Fuß. Selbstbewusst ziehe ich meine Schultern zurück, richte mich gerade auf, fühle, wie die Energie durch meinen Körper strömt. Ein befreiendes Lächeln liegt auf meinem Gesicht.
Ein älterer Herr betrachtet mich fasziniert von der Seite, erkennt meine Absicht an der Jakobsmuschel. „Na, Mädel, da hast du dir aber ganz schön was vorgenommen. Respekt!“

(Version 2)

Letzte Aktualisierung: 20.01.2015 - 10.47 Uhr
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