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Ziele | Januar 2015

Schneesturm
von Sabine Barnickel

Island 1780

Manche hatten sie für verrückt erklärt, als sie loszogen. Andere hatten sie für Angeber gehalten, wieder andere hatten ihren Mut bewundert. Für Bjarni und seinen Bruder Jón war es einfach eine Notwendigkeit gewesen. Die Seuche hatte fast alle Schafe dahingerafft und den Menschen am Fjord eine ihrer Lebensgrundlagen geraubt. So waren sie schließlich im Spätsommer zusammen mit ihrem Cousin Halldór und dessen elfjährigem Sohn Einar in den Süden geritten.

Und sie hatten Erfolg gehabt. Mit 180 Schafen und sechzehn Pferden waren sie am 28. Oktober von Hamarsholt aufgebrochen. Sie hatten nicht warten wollen. Warum auch? Das Wetter war im Frühjahr genauso unberechenbar wie im Herbst. Länger als eine Woche hatten sie für den Weg durch die Ödnis des Hochlands zurück nach Skagarfjördur nicht eingeplant. In der zweiten Nacht hatte der Sturm eingesetzt, das war vor drei Tagen gewesen …

Bjarni trieb Mensch und Tier vorwärts. Die Pferde kämpften mit gesenkten Köpfen gegen den Sturm an. Der Wind schleuderte ihnen eisige Schneekristalle entgegen. Hier im Hochland hielten kein Strauch und erst recht kein Baum den Sturm auf, Felsformationen, hinter denen sie Schutz suchen konnten, waren selten. Der Schnee erschwerte zusätzlich das Fortkommen.

Bjarni hatte Einars Pferd an seinem Sattel festgebunden, damit der Junge nicht verloren ging. Er fluchte. Warum nur hatten sie sich überreden lassen einen Elfjährigen mitzunehmen? Einars Mutter brachte ihn um, wenn dem Jungen etwas zustieße.
Bjarni selbst war dreizehn gewesen, als er das erste Mal mit seinem Vater das Hochland durchquerte, das war vor sechs Jahren gewesen.
Durch den Schleier der Tränen, den ihn der Wind und der harte Graupel in die Augen trieben, warf er einen Blick zur Seite. Der Junge saß, besser gesagt hing, noch auf dem Pferd. Ob die sechs Packpferde, für die Einar und er verantwortlich waren, noch folgten, konnte er nicht erkennen. ‚Tapferer Junge‘, dachte er, ‚bloß wie lange würde er noch durchhalten? ‘

Den Abzweig nach Kerlingarfjöll hatte er verpasst. Er fluchte erneut. Das Tal dort bot Schutz und unter dem Schnee hätten die Pferde und die Schafe vielleicht noch Gras finden können. Jetzt war Hveravellir seine Hoffnung. Bei den heißen Quellen dort gab es sogar eine Hütte. Bjarni versuchte sich mit dem Gedanken daran zu wärmen.

Er dachte an Jón und Halldór. Sie hatten sicherlich alle Mühe, die Tiere zusammenzuhalten. Er hatte sie seit Stunden nicht mehr gesehen. Ab und zu meinte er eines der Schafe durch den Sturm zu erkennen. Sie waren noch da.
„Herr im Himmel, sei uns gnädig.“ Dann betete er ein Vaterunser. Der Sturm entriss ihm die geflüsterten Worte.

Holte der Sturm nur Luft oder hatte der Himmel tatsächlich Erbarmen mit ihnen? Es klarte auf. Zu seiner Linken konnte er die Umrisse des Kjalfell erkennen. Wenn sie jetzt zulegten, könnten sie Strecke machen, in einer Stunde Grettishellir erreichen und in etwa drei Stunden in Hveravellir sein.
„Auf geht’s, Einar“, rief er dem Jungen zu.
Bjarni nahm mit klammen Fingern die Zügel auf, doch das Pferd weigerte sich auch nur einen Schritt schneller zu gehen, geschweige denn anzutölten*. Dann sah er, wie der Junge vom Pferd rutschte.

„Verdammt!“
Er ließ sich vom Pferd gleiten. Die Tiere blieben einfach stehen und erweckten nicht den Eindruck, als würden sie weglaufen wollen. Er beugte sich über den Jungen.
„Einar, komm zu dir.“
Der Junge schlug die Augen auf.
„Sind wir zu Hause?“
„Bald, Einar, bald“, sagte Bjarni, obwohl er sich in diesem Moment alles andere als sicher war, ob sie ihr Ziel jemals erreichen würden. Die Erschöpfung drohte auch ihn zu überwältigen. Schaf um Schaf sammelte sich um sie, die Packpferde waren ganz in der Nähe stehen geblieben. Wenigstens das. Er raffte sich auf, löste die Sattelgurte, suchte Zelt, Decken und Proviant zusammen. Das Nötigste. Die Tiere mussten zusehen, wie sie an die restlichen Heubüschel kamen, er musste sich um den Jungen kümmern.

Notdürftig baute er das Zelt auf, hüllte sich und Einar in die Decken. Draußen kehrte der Sturm zurück, er hatte nur Luft geholt.
„Papa?“, murmelte der Junge.
„Dein Papa und Jón werden bald hier sein.“
Hoffte Bjarni zumindest.
„Bis sie hier sind, erzähle ich dir eine Geschichte. Wie wäre es mit der von dem Jungen, der auszog die Familienkuh nach Hause zurückzubringen? Du weißt schon, die mit der Trollfrau und ihrer Tochter …“

Der Sturm fegte über sie hinweg. Bjarni hielt Einar fest in seinen Armen. Der Junge war so still und so kalt, er würde es nicht schaffen. Halldór und Jón würden auch nicht mehr kommen. Vielleicht waren sie schon zu Hause.

Die Schafe.
Er musste sie nach Hause bringen.
Er würde sie nach Hause bringen.

Draußen wurde es still.

Er hielt den Jungen immer noch in seinen Armen, doch er fror nicht mehr, stattdessen breitete sich ein warmes Gefühl in ihm aus.
‚Ich werde den Jungen und die Schafe nach Hause bringen‘, war sein letzter Gedanke bevor er einschlief.

***
Keiner der Männer erreichte sein Ziel im Skagarfjördur in Nordisland. In den nächsten hundert Jahren wagte niemand das Hochland zu durchqueren.

***
*Tölt = spezielle Gangart der Islandpferde.

Letzte Aktualisierung: 21.01.2015 - 21.50 Uhr
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