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Ziele | Januar 2015

Da muss es doch noch mehr geben – oder?
von Glädja Skriva

Herr N. hieß Herr N., weil er ein außergewöhnlich akrobatisch agierender N.asenpopler war. Er verstand es, mit einer grazilen Leichtigkeit allen Dreck der Welt aus sich herauszuholen.

Nur wenige Meter von Herrn N. entfernt stand Fritzchen (seine Mutter hätte ihm auch einen einfallsreicheren Namen geben können); meist versteckte er sich hinter einem Baum. Zu gerne hätte er mit den anderen Jungs Herrn N. gehänselt, dem inzwischen der Schnodder aus der Nase tropfte, bis seine Schuhe eine gelblich-grüne, schmierige Farbe erhielten. Jeder andere hätte der hämischen Meute die Ohren langgezogen, aber Herr N. ignorierte die Bande, ja, er schien nur auf diese eine Aufgabe fokussiert zu sein, die sein Leben ausmachte: mit seiner linken Hand den Schnodder aufzufangen und zu drehen, bis daraus ein krümeliger Popel entstand, den er inzwischen in kleine, bunte Becher schnippen konnte, wie kein anderer. Manche der Jungs durften sich einige Centstücke verdienen, indem sie die Reichweite der Becher variierten. Angeekelt und doch stolz fischten sie das Klimpergeld zwischen den Nasenpopeln heraus.
Fritzchen hätte gerne bei dieser schmuddeligen Mutprobe mitgemacht. Aber letztlich hielten ihn seine frisch gebügelten Falten in seiner Stoffhose zurück, die sich in ihrer Schärfe hinaufarbeiteten bis zu seinem pomadigen, kerzengerade gezogenen Scheitel, der Links von Rechts trennte, Gut von Böse, Richtig von Falsch. So, wie es seine Mutter ihn mit der Muttermilch hatte einsaugen lassen.
Unweit von Fritzchen und seiner Mutter (um die Ecke bei „Brezel Weber“) wohnte Mariechen. Mit Schürze und Kopftuch, fest unter dem Kinn zusammengeknotet, schaufelte sie unermüdlich den Großstadtdreck aus den Kübeln der Stadt und bepflanzte sie mit stimmungsvollen Weihnachtslichtern. Sie summte dazu mit brüchiger, aber hingebungsvoller Stimme: „Christ, der Retter ist da ...“, während sie sich zu dem nächsten Kasten trotz ihrer schmerzenden, rheumatischen Knie hinunterbückte und ein weiteres Lichtlein hineinsteckte. Das letzte setzte sie seufzend dem Nasenpopler auf seine Bommelmütze, der es an sich geschehen ließ. Dann tappte sie mit müden Schritten nach Hause in ihre bescheidene Zweiraumwohnung, ging zu Mutter nebenan, die sie so lange gepflegt hatte, und zupfte deren Leichenhemd zurecht (sie war vergangene Nacht gestorben).
Draußen war der erste Schnee gefallen. Mitten auf dem Marktplatz stand immer noch Herr N., inzwischen durch die Kälte fast erstarrt. Er kam einem Schneemann gleich, an dem nur noch eines lebendig war: Etwa jede Stunde bewegte sich aus seiner rotgefrorenen Nase fädenziehend ein kleiner Rotztropfen Richtung Eisboden, auf dem er schließlich einen gelblichen Schmelzfleck bildete. Das Seltsame war, dass, just in diesem Moment, jedes Mal in der Stadt ein Licht ausging und es dunkel wurde. Heute bei Mariechen. Ihre Weihnachtslichter, mühsam gesteckt, gaben keinen Glanz mehr. Eine Erinnerung stieg in ihr auf an die Nacht, als sie ihre Mutter geschüttelt hatte. Da weinte sie. Aber, es war noch nicht Weihnachten. Letztlich beweinte sie nur - sich selbst.
„Gigi“ wohnte drei Stockwerke über Mariechen. Sie hatte ihren Spitznamen bekommen, weil sie früher keinen Gig ausgelassen hatte. Sie war eine Künstlerseele, frei, sinnlich und liebte orientalische Gewürze, kreisende Hüften, Hamam und süßen Tee. Ihre Wände schmückten Bilder in kräftigen Farben und schwerer Moschusduft (oder war es der, der Wasserpfeife?) hing zwischen ihren fein gewebten Teppichen (sie würde einen von ihnen doch nicht nach Mekka ausrichten, beäugte Mariechen sie argwöhnisch).
Inzwischen grüßte ein überdimensionaler Plastik-Weihnachtsmann vor dem „Brezel Weber“ das weihnachtliche Treiben, in dem mittendrin "Wilma" thronte. Das Inventar des Viertels. Wie immer polterte sie laut, wild gestikulierend: "Ich hab mir geschwore … so ein wie mein Schwiegervadda halt ich koine 37 Jahr aus.“ Dabei stemmte sie energisch die Hände in die Hüften, schüttelte den Kopf und dröhnte weiter: „Aber weisch was? Mittendrin steck ich jetzt in diese - 37 Jahr." Sie rollte die Augen und tätschelte dabei mit ihrem verfilzten Wollhandschuh über die Schnauze eines bettelnden Zirkusponys.

Als Mariechen die vierte Adventskerze anzündete, legte sich eine zarte Melancholie über die Stadt und Fritzchen begann, weihnachtlich infiziert, zu träumen - dass er einmal ein Junge wäre. Nicht ein "braver", nicht "ein besonders gelungener", auch nicht "Mutters bester", sondern einfach einmal ein Junge. Mit Flausen im Kopf. Ohne Scheitel und Bügelfalte in der Hose. Und mit Emil als Freund, weil der manchmal rotzfrech sein konnte.
Und Gigi? Gigi bekam plötzlich Sehnsucht nach i h m. (Auch wenn am Hl. Abend wieder nur der Pizzaservice kommen würde mit „Pizza ai frutti di mare“. Für una persona.)
Drei Stockwerke unter ihr wartete Marie auf das große Licht, das a l l e Dunkelheit nähme. Bei ihr und in der Stadt, so, dass sie endlich zur Ruhe kommen würde.
Das Zirkuspony wiederum leckte sich das Maul, in dem Gedanken an einen Zentnersack frischer Karotten und Wilma malte sich aus, dass ihr Mann dieses Jahr den Likör nicht pur, sondern einmal verdünnt süffeln würde. Ach ja, und dass das neugeborene Enkelkind endlich zu Besuch käme (und dabei tupfte sich sogar die hartgesottene Wilma heimlich eine Träne ab).
Herr N. war als Einziger unentschieden, was er sich ersehnen sollte. (Ersehnen?) Und so ließ er einfach seinen Schnodder aus der Nase tropfen, während er in den Sternenhimmel glotzte und der Rotz in glasklarer Sternennacht zu einem goldschimmernden Kunstwerk gefror. Vielleicht würde ihn ja ein Mäzen entdecken?
So warteten und hofften sie alle. Wieder einmal. In der Weihnachtsnacht.

Am Tag nach dem Hl. Abend wurde auf dem Weihnachtsmarkt das Spotlight vom Kindlein in der Krippe (es hatte für dieses Jahr ausgedient) auf den nächsten Glühweinstand gerichtet. Zerknüllte Servietten mit Senfspuren fegten durch die Stände und blieben an nackten Tannenzweigen hängen. Die Verkäufer, die nach und nach mit schlurfendem Schritt eintrudelten, sahen müde aus. So ein Festtag hinterließ seine Spuren. Herr N. drückte sich zwischen den Buden herum und blieb schließlich an einem Langosstand kleben. Der Geschmack von altem Bratfett legte sich auf die Zunge und einen vom Feiertag gereizten Magen. Herr N. hatte einen dicken Kopf (die Nebenhöhlenentzündung hatte sich über die Tage wohl verschlimmert). Mariechen hatte versucht, seinen eitrigen Sekretfluss zu stoppen, indem sie ihm zwei Tampons gab, die er sich in die Nasenlöcher stopfen sollte (die Tampons hatte sie von Gigi zugesteckt bekommen mit den Worten, dass sie eine alte, vertrocknete Jungfer sei. Und da Mariechen wirklich vertrocknet war, steckten die Tampons jetzt in Herrn N.`s Nase. Und Gigi? Die war mit dem Pizzabäcker durchgebrannt. Frutti di mare).
Die ersten Crepes wurden ausgebacken, Glühwein geschlürft, kalte Hände aneinandergerieben. Auch das bunte Kinderkarussel mit seiner abgeblätterten Farbe kam langsam in Schwung. Untermalt von einem krächzenden „White Christmas“ drehte sich ein grinsender Donald Duck, gefolgt von einer zuckerrosa Prinzessinnenkutsche und einem aufheulenden Feuerwehrauto mit einer großen Glocke. Die Welt begann sich wieder um die eigene Achse zu bewegen.
Das Pony zupfte am Stroh des Jesuskindes und Wilma an der selbstgestrickten Kinderdecke, die sie über das schnaubende Pferdchen geworfen hatte (ihr Enkelkind war nicht zu Besuch bekommen. Dann würde sie eben Leihoma von eigenwilligen Ponys werden). Wilmas Mann hielt sich an seinem Eierlikörglas fest und Fritzchen lächelte selig in seiner Prinzessinnenkutsche auf dem Kinderkarussel, denn nur drei Cowboypferde vor ihm saß Emil in seinem Feuerwehrauto, bimmelte übermütig mit der großen Glocke und sang aus vollem Hals: „Bei Müllers hat`s gebrannt, da bin ich schnell gerannt, da rannt ich schnell nach Haus, zu meinem Bruder Klaus. Der Klaus, der lag im Ehebett mit seiner Frau Elisabeth. Elisabeth, die lachte, ihr Busenhalter krachte …“
Fritzchens Gesicht leuchtete auf. Jetzt konnte er zeigen, dass er mithalten konnte und in lautem Brustton hob er an: „Ich steh an deiner Krippe hier.“ Seine Mutter winkte ihm selig lächelnd zu. Ihr Bub! Dann nahm Fritzchen den Ärmel seines neuen Lodenanoraks und wischte seine Nase der grünen Stoffspur entlang, bis sich ein Kondensautobahnstreifen darauf bildete. Die Stirn seiner Mutter legte sich in Falten. Aber noch war gnadenbringende Zeit und so lächelte sie weiter, nun mit blütenweißem Taschentuch winkend, als Fritzchen erneut ansetzte: „Ich steh an deiner Krippe hier (Emil klingelte dazu), ich steh an deiner Krippe hier und schnodder dir mein Leben …“ Weiter kam er nicht. Seine Mutter war stolpernd auf das Karussel gesprungen (so sportlich sah sie eigentlich gar nicht aus) und scheuerte ihm eine, dass es knallte. Die Tampons ploppten aus Herrn N.`s Nase (sein Kopf fühlte sich plötzlich viel freier an). Ein Schleimpropfen tropfte, als dicker Klumpen in das Eierlikörglas von Wilmas Mann, dessen Eierlikör nun wirklich verdünnt war, quasi Ton in Ton: Rotz mit Likör. Und Mariechen musste das tun, was sie immer tun musste: Ein Licht in der Finsternis anzünden. So drückte sie sich neben Fritzchen in die Prinzessinnenkutsche und versuchte zu retten, was noch zu retten war, indem sie wie Jeanne d`Arc ihre Arme gen Himmel reckte und zwitschernd anstimmte: „Ich steh an deiner Krippe hier, oh Jesu, du mein Leben … ich schnodder dir … ich lieg in tiefer Todesnacht, kein Traum will mehr gelingen, hab Tür und Fenster zugemacht, mach du es hell darinnen …“ – „Dadrinnen, Elisabeth, sie lachte, ihr Busenhalter krachte“, grölte Emil dazwischen und schlug kräftig die Glocke des Feuerwehrautos dazu an. „Amen, Amen“, schloß Marie mit andächtig geschlossenen Augen.

Das Jesuskind in der Krippe hatte kaum merklich gezuckt, als der Tampon haarscharf an ihm vorbeigeflogen war. „Mi casa es su casa“, sagte es leise.

© P.S./Glädja Skriva/Januar 2015

Letzte Aktualisierung: 18.01.2015 - 18.58 Uhr
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