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Ziele | Januar 2015

Umwälzungen
von Marcel Porta

„Meine Herren, wie Sie sich denken können, geht es heute um ein besonders wichtiges Thema.“
Wieder einmal hat der Vorsitzende Herr Dr. Thomas Josef Boss-Baggerbiss vergessen, die einzige anwesende Dame angemessen zu begrüßen. Doch Frau Schlaule ist daran gewöhnt. Als Alibi- und Quotenfrau in der Geschäftsleitung darf man nicht empfindlich sein. Ihr weinrotes Kleid sticht hervor, denn die Anzüge der anderen Anwesenden sind von einem stereotypen Schwarz. Nadelstreifen!
Ein zarter Duft nach Ananas und Patschuli umgibt Frau Schlaule. Sie nickt wie alle anderen weise vor sich hin und lauscht betont ehrfürchtig, als Herr Dr. Boss-Baggerbiss fortfährt.

„Haben Sie sich einmal die Fluktuationsstatistik der Personalabteilung angesehen, die ich Ihnen habe zukommen lassen? Ja? Dann wissen Sie, dass wir vor einem ernsten Problem stehen.“
Die unisono bedenklich wirkenden Gesichter aller Anwesenden könnten einen Kabarettisten zu ungeahnten Faxen beflügeln, doch hier in diesem Raum ist niemandem nach Späßen zumute. Zu bitter ist die Lage, wenn der Vorsitzende von ernsten Problemen redet.

„Wir haben im letzten Quartal zum dritten Mal in Folge wichtiges Personal an die Konkurrenz verloren. In fast der Hälfte der Abteilungen sind wir unterbesetzt und in der IT stehen wir vor dem Aus. Wenn dort noch einer geht, müssen wir outsourcen. Und was das bedeutet, brauche ich Ihnen nicht zu erläutern. Es gibt genügend Beispiele, welche fatalen Folgen diese Maßnahme gemeinhin zeitigt.“
Wieder werden Köpfe ahnungsvoll geschüttelt und Herr Bitterkraut gibt gar ein Schnaufen von sich, das die ganze Schwere der Verantwortung in sich trägt. Immer muss er sich vordrängen und sich bei Herrn Dr. Boss-Baggerbiss einschmeicheln.

„Wir müssen neue Anreize schaffen! Sonst verlieren wir den Kampf um die menschliche Ressource! Ideen müssen her, abseits des Alltäglichen. Und kommen Sie mir nicht mit Geld. Wir zahlen bereits außerordentlich gut. Mehr wäre ruinös. Es müssen andere Anreize sein. Lockmittel, denen die Fachkräfte nicht widerstehen können. Pheromone für die Traubenwickler, Licht für die Motten. Das Ziel ist vorgegeben, lassen Sie Ihre Denkfabrik arbeiten, meine Herren!“

Ein langes Schweigen folgt diesen Ausführungen. Niemand will der Erste sein, denn die ätzenden Bemerkungen von Boss-Baggerbiss, wenn er eine Äußerung für dumm hält, sind legendär und gefürchtet.
„Wir könnten das Rauchen am Arbeitsplatz wieder erlauben, das würde sicher einige gute Kräfte anlocken“, fasst sich endlich Herr Sabberlefz ein Herz und wagt sich an einen ersten Vorschlag. Prompt wird er niedergebügelt.
„Sehr kreativ, Herr Kollege!“ Diese Anrede benutzt der Vorsitzende nur, wenn er anschließend besonders beißend reagiert und so zieht Herr Sabberlefz schon mal den Kopf ein.
„Ungefähr jeder Dritte ist Raucher, sodass wir durch Ihre Maßnahme für jeden neu gewonnenen Arbeitnehmer zwei verlieren. Abgesehen davon ist das gesetzlich verboten und Sie sollten wissen, dass wir nichts Ungesetzliches tun. Jedenfalls nichts, das so leicht aufzudecken ist. Ich wollte ernsthafte Argumente, keinen solchen geistigen Dünnschiss.“
Niemand wagt daraufhin eine weitere Äußerung, es herrscht betretenes Schweigen. Bis Herr Dünnbier es nicht mehr aushält. Auch ihm ist nichts Originelles eingefallen, aber seine innere Unruhe, die ihn immer dann befällt, wenn der Vorsitzende ihn länger als zehn Sekunden mustert, lässt ihn jetzt nach vorne preschen.

„Ganz neu ist meine Idee nicht, aber wir könnten etwas aus vergangenen Jahrzehnten wieder aufleben lassen. Ganztägige Kinderbetreuung durch Fachkräfte und als i-Tüpfelchen eine Prämie für jedes Kind, das dort abgegeben wird. Die Leute lieben ihre Kinder, und wir müssen sie genau dort packen … an ihrer Emotionalität!“
Betretenes Schweigen. Niemand will sich äußern, bevor nicht der Daumen des Vorsitzenden hoch- oder runterzeigt. Endlich lässt er sich herab, etwas zu sagen.
„Hört, hört! Nicht schlecht, der Ansatz. Wahrlich nichts Neues, wenn man mal von der Schussprämie absieht.“ Sein meckerndes Lachen füllt den Raum und entlockt den anderen Teilnehmern in der Runde ein wohlgefälliges und auch erleichtertes Grinsen.

„Weiter so, ein Königreich für eine zündende Idee!“, fordert Herr Boss-Baggerbiss. Jetzt ist der Bann gebrochen und es kommen weitere Vorschläge auf den Tisch. Doch obwohl niemand mehr so richtig fertiggemacht wird, ist der Königsvorschlag noch nicht dabei.
Endlich gibt auch Frau Schlaule, die bisher noch gar nichts gesagt hat, etwas von sich. Eine Wortmeldung ihrerseits war nicht erwartet worden und hatte absoluten Seltenheitswert.
„Ich möchte den Vorschlag des Kollegen Dünnbier noch einmal aufgreifen. Allerdings in stark modifizierter Form. Emotionale Bindungen als Zugpferd einzuspannen ist genial, aber leider gibt es kaum noch Kinder. Damit erreichen wir nur einen geringen Prozentsatz der Bevölkerung, weswegen solche Einrichtungen aus der Mode gekommen sind.“
„Ja, das wissen wir doch längst. Was wollen Sie denn loswerden?!“, fährt ihr Herr Boss-Baggerbiss in die Parade.

Frau Schlaule reagiert nicht einmal gereizt, sondern fährt gelassen fort.
„Für die meisten arbeitenden Menschen gibt es ein anderes Problem, mit dem sie jede Menge Ärger haben und bei dem sie dennoch emotional engagiert sind. Warum bieten wir nicht eine betriebliche …“, eine kurze Pause wegen des Effekts, „Altenbetreuung an.“

Ihren Worten folgt eine andächtige Stille, die man mit den Händen greifen kann. Jedem ist sofort klar, dass in diesem Moment etwas Historisches geschehen ist, das der Quadratur des Kreises nahekommt. Selbst Herr Bitterkraut, der nicht mal den einfachsten Witz auf Anhieb versteht, hat die Genialität dieses Vorschlags sofort erkannt. Und jeder fragt sich im Geheimen: Warum bin ICH nicht darauf gekommen?!
„Das ist … nicht schlecht, daraus könnte man was machen“, lässt sich Herr Dr. Boss-Baggerbiss vernehmen. „Ich denke, wir brechen hier ab, ich muss nachdenken.“

Einer nach dem anderen verlässt leise den Konferenzsaal. Bei jedem Öffnen der Tür dringt ein leichter Zimtgeruch in den Raum, denn die Geschäftsleitungssekretärin hat für die Weihnachtsfeier Lebkuchen gekauft und im Vorzimmer gehortet. Mit Genuss saugt Herr Boss-Baggerbiss diesen Duft in sich hinein und verstärkt so seine Euphorie. Ja, warum ist er nicht selber darauf gekommen? Und hoffentlich auch noch niemand bei der Konkurrenz!
Praktisch jeder, den er in der Firma nahe genug kennt, um etwas aus seinem Privatleben zu wissen, schlägt sich mit diesem Problem herum: Was mach ich mit meinen Alten, während ich arbeite. Und nun dieser punktgenaue Vorschlag! Zum ersten Mal seit ihrer Beförderung aus politischen Gründen vor zwei Jahren empfindet er Sympathie für Frau Schlaule. Sie sieht gar nicht schlecht aus, und zumindest ab und zu scheint sie einen Geistesblitz zu haben. Die Frau muss man im Auge behalten, denkt er sich und grinst.

***

„Meine Herren, wie sie sich denken können, geht es heute um ein besonders wichtiges Thema.“
Wieder einmal hat der Vorsitzende Herr Dr. Thomas Josef Boss-Baggerbiss vergessen, die einzige anwesende Dame angemessen zu begrüßen. Doch Frau Schönlippe ist daran gewöhnt. Als Alibi- und Quotenfrau in der Geschäftsleitung darf man nicht empfindlich sein.

„Wie Sie alle wissen, haben wir das drängende Problem der Personalknappheit seit Beginn des Jahres im Griff. Die Idee mit der Altenbetreuung hat eingeschlagen wie eine Bombe. Wir können uns vor Zulauf kaum noch retten, und ich bin sicher, dass meine Idee um sich greifen wird. Bald werden die betrieblichen Betreuungseinrichtungen nur so aus dem Boden schießen und unser Wettbewerbsvorteil wird schwinden. Doch immer wird man wissen, dass wir die Ersten waren, dass diese inzwischen so beliebte Einrichtung in unserer Ideenschmiede ihren Ursprung hat.“

Herr Dünnbier ist so begeistert, dass er unwillkürlich in die Hände klatscht, was beim Vorsitzenden ein wohlwollendes Nicken erheischt. Sofort greift Herr Sabberlefz die Gelegenheit beim Schopf und klatscht seinerseits wie ein Berserker. Wenn er schon nicht selbst auf die Idee mit dem Applaus gekommen ist, will er wenigstens Herrn Dünnbier in der Lautstärke übertrumpfen. Der Lärm der fleißigen Hände wird lauter und lauter, und erst als Herr Boss-Baggerbiss nach einigen Minuten, in denen er in der Begeisterung gebadet hat, mit einer herrischen Geste um Ruhe bittet, bricht der Lärm abrupt ab.

„Ich habe diese Einrichtung zur Chefsache gemacht und der durchschlagende Erfolg lässt sich in Zahlen belegen: Wir haben keine einzige unbesetzte Planstelle mehr. Doch wir haben weit mehr als das erreicht, wir konnten bei jeder zu besetzenden Stelle unter mehreren Bewerbern auswählen! Seit ich im Berufsleben bin, habe ich das noch nicht erlebt.“
Wieder will Herr Dünnbier seine Hände rühren, doch der Vorsitzende fühlt sich durch die Lobhudelei unterbrochen. Mit einem stechenden Blick lässt er Herrn Dünnbiers Hände auf halbem Weg einfrieren.

„Der Boss-Baggerbiss-Seniorenpark wird von zwanzig Altenpflegerinnen betreut. Es war nicht leicht, diese Stellen zu besetzen, bis ich die geniale Idee hatte, auch in diesem Bereich das Prinzip der kostenlosen betrieblichen Altenpflege zur Anwendung zu bringen. Sie sehen also, meine Herren, mit Speck fängt man Mäuse!“
Ehrliche und unterwürfige Bewunderung schlägt dem Redner entgegen. Dieser Schachzug war mehr als genial gewesen.

„Bevor wir nun auf unsere gute Geschäftslage anstoßen - Frau Vorzimmer ist bereits mit Gläsern und Sekt unterwegs - möchte ich mich bei Ihnen allen für die gute Zusammenarbeit bedanken. Sie alle haben Ihr Bestes gegeben und mich bei der Umsetzung meiner Idee tatkräftig unterstützt. Auf weiterhin gute Zusammenarbeit also.“

Wieder brandet Beifall auf, und da Herr Boss-Baggerbiss mit seiner Rede am Ende ist, lässt er die aufrichtige Anteilnahme seiner Kollegen gerne zu. Man kann nicht immer nur bescheiden sein, wenn man eine gewisse Größe erreicht hat. Die Massen wollen aufschauen! Ihnen das zu nehmen, wäre grausam. Und grausam ist Herr Boss-Baggerbiss nun wirklich nicht.

Letzte Aktualisierung: 22.01.2015 - 07.44 Uhr
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