Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Erotik | Februar 2015
Die Viskosität osteuropäischen Industriebrotteiges
von Jochen Ruscheweyh

Jonas Hellbrink schob sich die Brille ins Haar und verschränkte die Arme hinter dem Kopf: „Sorry, Leute, das ist es einfach nicht. Danke. Wir machen Schluss für heute.“
„Ich finde, wir sollten eine Gruppe Testmasturbierer an den Start schicken ...“, bemerkte Arndt, hauchte gegen die Oberfläche seines iPads und wischte dann mit einem Antistatik-Tuch darüber. Aber Jonas winkte ab. „Der Grundansatz ist ein verkehrter.“
„Wie meinst du das?“, warf Kaspar ein. „Ich hab die rattenschärfsten Geräte zwischen Hamm und Duisburg gecastet. Silicon, Extensions, French Nails, genau was wir brauchen.“
Jonas runzelte die Stirn und sah Kaspar an, der an seiner Coke Zero nippte. „Und, geht dir einer ab, bei einer von denen, Kas?“
„Nein. Also, nicht direkt.“ Kaspar kratze sich am Kinn. „Aber knallen würd ich sie schon alle.“ Dabei strich er über seinen ausgeprägten Bauch, der ein Stück unter seinem Abercombie&Fitch-Shirt herausschaute, schob seine Hand zwischen seine Beine und hob die Ausbuchtung, die sich dort vage abzeichnete, zweimal kurz an.
„Ja, schon klar“, nickte Jonas.
„Dein gönnerhafter Unterton kotzt mich an!“, entgegnete Kaspar.
Arndt hob die Hand: „Sachte Kas! Immerhin lastet eine immense Verantwortung auf Jonas. Es geht hier nicht nur um eine der letzten Adelsdynastien, es geht auch um das Überleben eines Vintage-Schreibgerätes. Soll ich uns etwas Koks besorgen? Zur Inspiration?“
Jonas schloss die Augen. „Lasst uns Schluss machen für heute.“


Er ertappte sich dabei, wie er eine Zeitschrift in der einen, die Aigner-Ledermappe in der anderen Hand bereits den dritten Tag in Folge seine Schritte verlangsamte, als er an der Back König Louis 14 - Filiale - was für ein dämlicher Name, welcher Spinner sich damit wohl durchgesetzt hatte, dachte Jonas - im Hauptbahnhof vorbeikam. Diesmal blieb er stehen. Ich bin ein Voyeur, stellte er fest, als er - leicht von einer Säule verdeckt - beobachtete, wie die Bäckereiangestellte im hinteren Ladenteil auch an diesem Tag die Kittelärmel hochschob und ihre kräftigen Oberarme entblößte, um einen der Industrieteige nachzukneten, von denen Jonas spätestens seit der letzten Monitor-Sendung wusste, dass sie über Nacht und aus Osteuropa geliefert wurden. Ihre Hände mit den kleinen rundlichen Fingern, die ihn an Pariser Möhren erinnerten, gruben sich in die beigefarbene Masse auf dem bemehlten Untergrund. Jonas konnte förmlich das Schmatzen hören, das der Teig unter ihr von sich gab. Als Jonas genauer hinsah, entdeckte er, dass sich die Knetbewegungen über ihre Elle und Speiche fortsetzten bis hinauf zur Schulter. Unter dem Fleisch ihrer Oberarme blitzte von Zeit zu Zeit ein Stück Muskel in Form eines fest umrissenen Stranges auf, nur um sich einen Moment später wieder unter dem eher ungeformten und massigen Rest zu verstecken. Obwohl Jonas viele Menschen traf, hatte er noch nie zuvor eine ähnliche Anmut in einem menschlichen Bewegungsablauf gesehen, eine Erkenntnis, die vom Kopf abwärts durch seinen Bauch nach unten floss. Er konnte nicht anders, er musste näher heran.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte ihn die zweite Back König Louis 14 - Angestellte, eine im Vergleich zu ihrer knetenden Kollegin vollkommen unscheinbare und unattraktive Sonnenbank-Anwenderin, wie Jonas fand.
„Ein Brot!“, antwortete er und versuchte dabei über die Schulter der Angestellten einen Blick auf ihre Kollegin zu werfen, die schräg hinter ihr immer noch mit dem Teig beschäftigt war.
„Was für ein Brot hätten Sie denn gerne?“
„Was haben Sie denn für welches?“, entgegnete er mechanisch, während er sich vorstellte, jenseits des Thekenbereichs der Franchise-Kette zu treten, sich hinter der Knetfrau - er merkte wie sich sein Mund bei diesem Begriff zu einem Lächeln verzog - zu positionieren und diese phänomenalen Oberarme mit seinen Händen zu bearbeiten, zu quetschen, zu pressen und anschließend ... hineinzubeißen.
Das Räuspern der Verkäuferin, die jetzt die Stirn in Falten legte, sich zur Seite wandte und auf die obere Reihe im Display hinter ihr zeigte, brachte seine Aufmerksamkeit kurz zurück. „Wir hätten Siegerländer, Kassler, Paderborner, ...“
Dann verschwammen die Worte bereits wieder zu einem Städte-Brei in Jonas Kopf.
„Können Sie es mir schneiden?“, hörte er sich irgendwann selbst sagen, ohne sich bewusst daran zu erinnern, sich für eins entschieden zu haben.
„Sicher“, antwortete die Verkäuferin. Während sie Jonas den Rücken zuwandte und das Brot in die Maschine legte, zückte er sein Handy und aktivierte die Kamera.

„Sagt mir, was ihr seht!“, forderte Jonas, als er am nächsten Tag gegen 14.00 Uhr mit Arndt und Kaspar beim Meeting saß.
„Ich seh ’ne fette Alte, die Brotteig durchwalkt“, bemerkte Kaspar.
Arndt nickte. „Das ist eine harte Nummer, Jonas. Ist das eine Art politisches Statement von dir?“
„Verdammt Scheiße!“ Jonas schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich verlang doch nichts Unmögliches von euch. Werft einfach mal für zwei Sekunden eure tumben Klischees über Bord und lasst euch auf das Bild ein.“
„Hmm, ziemlich pixelig.“
„Zwei Sekunden, Kas, zwei Sekunden ...“ Jonas lehnte sich zurück.
„Prall“, stellte Arndt nach einem Moment fest. „Was zum Zupacken. Weibliche Dominanz. Unten liegen.“
„Kas?“, fragte Jonas.
„Abgesehen von der Auflösung, ich seh ein Impfmal. Eyecatcher, Sticky Point. Ich brainstorme eine Analogie zum klassischen Schönheitsfleck. Marilyn Monroe, Madonna, wenn du willst Boy George.“
Jonas schnalzte mit der Zunge. „Das gefällt mir.“
Und er wiederholte noch einmal langsamer: „Ja, das gefällt mir.“
„Je länger ich darüber nachdenk, desto geiler find ich’s“, stellte Kaspar fest.
Arndt rieb sich das Kinn. „Aber immerhin geht es um den Grafen und ein Produkt mit einer einzigartigen Historie Made in Germany. Ich wär dafür, das durch Testmasturbierer absichern zu lassen.“
„Manchmal muss man Dinge einfach machen, um sich entsprechend am Markt zu platzieren“, stellte Jonas klar. „Kas? Machen?“
„Fuck, ja!“
„Ich seh nur noch nicht ganz den Zusammenhang zwischen Modell und Produkt.“
„Wir gehen back to the roots und zeigen, dass Simplizität und Ästhetik im Detail liegen und wiederum an die Perspektive des Betrachters gekoppelt sind. Gleichzeitig nennen wir das Produkt im Kontext mit harter, ehrlicher Arbeit“, gab Jonas zurück.
„Und wir spielen mit dem geflügelten Wort sich etwas hinter die Ohren schreiben. Ich denke an leicht verschwitztes Haar, ein paar perlende Tropfen ...“
„Genau wo ich hin will, Kas!“, gab Jonas zurück.

Er blickte im Halbdunkel an Alexandras ausgemergeltem Körper hoch. Ihre Haut fühlte sich pergaminartig an, als er darüber strich. Es ist, als wenn mich ein Origami-Schwan mit Gummibällen bestiegen hätte, überlegte Jonas , während er unter ihr abbaute. In einem hilflosen Versuch, die Reste seiner schwindenden Erektion zu retten, griff er nach ihren Oberarmen und dachte dabei an die Knetfrau.
Er hatte förmlich das Gefühl es rascheln zu hören, als Alexandra seine Arme wegstieß.
„Was ist? Sind dir meine Bizeps nicht definiert genug?“, zischte sie Jonas entgegen.
„Nein, es ist nur ... du bist so ... so schrecklich dünn.“
„Haben wir jetzt Märchen-Sex, ich Gretel und du Mast-Hexe? Nein, jetzt weiß ich’s: Du kommst nicht damit klar, dass ich disziplinierter bin als du. Oh, das ist wirklich das Hinterletzte, Hellbrink!“
„Ich meine doch nur ...“
Bevor er aussprechen konnte, begann Alexandra auf ihn einzuschlagen.

„Es war die richtige Entscheidung. So ein Marketing-Konzept in sechs Wochen zu erarbeiten, ist nicht nur Chief, das ist Kanzler! Und Kanzler ist top!“, sagte Arndt, während er die aufgeschlagene Business-Punk Ausgabe auf dem Schoß liegen hatte.
Kaspar griff sich zwischen die Beine und ließ das, was sich auch an diesem Tag nur vage dort abzeichnete, zweimal hüpfen. „Yes, Sir!“, fügte er hinzu. Auch Jonas hatte die Business-Punk vor sich ausgebreitet. Mit dem Zeigefinger strich er über das matte Papier, von dem die Letter buchstäblich hervorsprangen: Der Graf Haber-Mankell und Agentur Jonas Hellbrink: The Return of Graphit oder so sexy kann Bleistift!
Kaspar hatte ihr ein Rundum-Sorglos-Paket verpasst, sogar Alexandras Zunge, mit der sie die Bleistiftmine anleckte, anthrazit eingefärbt und ihre Kunstnägel mit einem hammerschlaggrauen Lack eingepinselt, sowie ihre aufgepumpten Gummibrüste mit Gaffa-Tape zu einem üppigen Dekollete unter dem Sekretärinnen-Kostüm hochgebunden. Es war wie es war: Billig-Sex vor Bürokulisse. Und wahrscheinlich würde es dem Bleistift zu einer kurzfristigen Renaissance verhelfen. Jonas verursachte es Übelkeit. Aber darauf kam es wie meist nicht an. Er stand auf, griff nach seinem Tommy Hilfiger Blouson und ging zur Tür.

Er wartete bis kurz nach sieben an der Säule vor der Back König Louis 14 - Filiale. Als die Knetfrau ihre Tasche schulterte und hinter dem Thekenbereich hervortrat, hielt er auf sie zu und sagte: „Entschuldigen Sie, ich heiße Jonas Hellbrink, würden Sie gern einen Kaffee mit mir trinken?“
Die Knetfrau sah ihn einen Moment an.
„Nein“, sagte sie und ging an ihm vorbei Richtung U-Bahn.
„Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, wie schön Sie sind?“, rief Jonas ihr hinterher, aber eine per Lautsprecherdurchsage angekündigte Zugverspätung überdeckte seine Worte.

V2

Letzte Aktualisierung: 22.02.2015 - 16.15 Uhr
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