Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
Ich hätte mich nicht an ihren Tisch gesetzt, wenn nicht alle anderen Tische besetzt gewesen wären und wenn sie nicht in einem Buch gelesen hätte, das ihre ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm. Ich bestellte mir ein Eis. Nur Schokolade, zwei Waffeln. Sie schenkte mir ein Lächeln, freundlich, aber etwas geistesabwesend. So, als hätte meine Bestellung sie in ihrer Konzentration gestört, sie mir aber nicht böse sei.
Dann las sie wieder in ihrem Buch und ich schaute mir die Menschen an, wie sie einzeln vorbeieilten oder paarweise einen Einkaufsbummel unternahmen. Doch als sie sich einen weiteren Capuccino bestellte - ich weiß selbst nicht, was da in mich fuhr -, sagte ich:
„Darf ich den übernehmen?“
Sie sah mich lange an, und ich konnte nicht erkennen, ob sie nachdachte oder einfach nur überrascht war. Ich fragte mich bei dem Anblick ihrer hochgezogenen Wangenknochen und der schwarzen Haare, ob sich da nicht eine Großmutter aus Japan versteckte, aber sicher war ich mir da nicht.
„Ja, gern. Danke“, sagte sie endlich.
Das war der Augenblick, an dem wir begannen, ein paar Belanglosigkeiten auszutauschen. Ich war anfangs nicht ganz bei der Sache, weil ich nicht verstand, warum ich sie überhaupt angesprochen hatte. Sie passte so überhaupt nicht zu jenem Typ Frauen, denen sonst mein Herz zuflog. Zwar hatte sie unter ihrem kurzen Rock Beine bis zum Hals, aber der Rest ihrer Kleidung war hochgeschlossen. Und obwohl ich überall Eleganz erkennen konnte, fehlten mir die Rundungen, die ich immer mit Sex Appeal verband. Doch nach den ersten Anfangsschwierigkeiten plauderten wir ganz locker über Gott und die Welt. Ich weiß nicht, wie lange wir zusammen saßen. Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie sie sich auf einmal verabschiedete und ich plötzlich allein am Tisch saß.
Als sie ging, dankte sie mir noch für den schönen Nachmittag, und als sie sagte, wie schön es war mit mir zu plaudern, freute ich mich und sah darüber hinweg, dass es nur eine Floskel war. Ich schaute ihr nach. Selbst dann noch, als sie an der nächsten Ampel die Straßenseite wechselte und es für mich gar nichts mehr zu sehen gab. Jetzt erst fiel mir ein, dass ich nicht wusste, wo sie wohnte, ihre Telefonnummer nicht kannte und ihr auch meine nicht aufgedrängt hatte. Ich wusste nur zwei Dinge: Sie hieß Chris und ich war ein Idiot.
Von nun an trafen wir uns regelmäßig samstagnachmittags. Wir gingen ins Kino oder Händchen haltend durch den Park. Bald fanden wir an einem ganz speziellen Platz auch unsere ganz spezielle Bank. Chris war bezaubernd, zärtlich und küsste so vorsichtig wie ein ganz junges Mädchen. Aber auf die Dauer war mir das zu wenig. Ich drängte. Sie widerstand. Letztlich setzte ich mich durch, und sie lud mich zu sich in ihre Wohnung ein. Ich kam pünktlich und mit Blumen. Wir saßen auf einem ungemütlichen Sofa, das die besten Tage schon lange hinter sich hatte. Chris schien etwas zu bedrücken. Ihre Küsse kamen widerstrebend, und als ich meine Hand auf ihren Schenkel legte, wäre sie mir beinahe ins Gesicht gesprungen.
„Wir müssen uns trennen“, sagte sie mit Tränen in den Augenwinkeln. „Es geht nicht mehr.“
Ich fühlte mich, wie vom Blitz erschlagen.
„Was ist los, Chris?“, fragte ich. „Du kannst über alles mit mir reden. Gleichgültig, was es ist.“
„Darüber nicht.“
„Doch auch darüber.“
Sie setzte sich aufrecht hin und schaute in eine Zimmerecke, in der nichts stand.
„Ich heiße Chris. Chris steht für Christian, und ich liebe Frauenkleider.“
So einen ähnlichen Satz hatte ich schon mal gehört. Aber das war in einem Film, wo sich der Held bei den Anonymen Alkoholikern vorstellte. So ein Satz hatte in meiner Realität nichts verloren. Oder ich war im falschen Film.
„Ich verkleide mich gern mal als Mädchen“, sagte Chris. „Das ist alles. Nichts sonst. Ich bin auch nicht schwul. Bis vor einigen Wochen hatte ich sogar noch eine feste Freundin. Konnte ich denn ahnen, dass ausgerechnet du mir über den Weg läufst?“
Ich sah die Feuchtigkeit in ihren Augen. So weinte doch kein Mann. Das war meine Chris. Nicht Christian. Ich nahm sie in den Arm.
„Ich dachte, du magst mich“, sagte ich hilflos.
„Viel mehr als das.“
Unser Schweigen baute eine Wand auf, die immer höher wuchs. Und kurz bevor sie so hoch wurde, dass ich befürchtete, niemand könne mehr darüberklettern, sagte ich:
„Dann lass es uns versuchen. Es wird sich zeigen, ob es geht. Alles, was wir für den morgigen Tag brauchen, ist ein bisschen Mut. Und dann kommt der nächste Tag. Und der ist dann schon viel leichter. Hast du Mut?“, fragte ich Chris.
Letzte Aktualisierung: 24.02.2015 - 19.53 Uhr Dieser Text enthält 6265 Zeichen.