Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
Carlos ungeregeltes Leben erhielt in einer Art und Weise Struktur, dass sein mühsam akzeptiertes Hartz-IV-Denkmal bereits nach einer Woche kippte wie weiland die Saddam-Statuen im Irak. Es stand auf dem immer größer gewordenen Platz in seinem Gehirn, genau im Zentrum einer Fläche, die im Laufe von acht Jahren ohne Berufstätigkeit zur geistigen Brache verkommen war. Im Verlauf eben jener ersten Woche hatte ein Bagger in seinem Kopf alles umgegraben und erstaunt entdeckte Carlo, wie nach so kurzer Zeit kleine Pflänzchen von neuer Routine ihre Blättchen in den Job-Himmel streckten. Er war froh, die Boulevard- und Gerichts-Shows wieder gegen eine andere Tagesgestaltung tauschen zu können. Dabei hatte er bereits Pläne geschmiedet, Barbara Salesch sehr bald einen Antrag zu machen, um wenigstens reich zu heiraten. Verzweifelte Endvierziger-Single-Ideen, die er nun ad acta legen konnte.
Denn die Arbeitsvermittlungsmaschinerie hatte ihn aus der steuerlichen Bedeutungslosigkeit befreit und in einen Job gepresst. Vom Tellerwäscher zum Millionär, das wäre es gewesen. Aber statt von Zinsen leben zu können, saß er nun täglich an einer monströsen Bügelmaschine. Mit seinem früheren Beruf als Ingenieur hatte das wenig zu tun, doch es störte ihn nicht. Hotelgäste schlafen gerne faltenfrei, das ließ den Job krisensicher erscheinen.
Zwischen 12:30 Uhr und 13:15 Uhr ruhten alle Maschinen. Nach Kantine stand ihm nicht der Sinn und so machte er sich jeden Tag pünktlich auf den Weg ans nahe gelegene Hafenbecken. Um 12:36 Uhr knisterte er mit dem Butterbrotpapier und saß, schon ab seinem ersten Tag in der neuen Firma, auf einem sandsteinfarbenen Quader der oberen von zwei flachen Mauern. Hindurch zog sich eine Promenade, trennte den Alltag des geschäftigen Stadtlebens von der heiteren Gelassenheit eines maritimen Gefühls, wenn im Sonnenschein bei sanfter Brise die Hirnmuskeln locker lassen können. Hinter der zweiten Einfriedung und den einheitlich rot-gelben Sonnenschirmen legten die nur mühsam vom Lack zusammengehaltenen Ausflugskähne zu den Rundfahrten ab. Weiter außen, an den Rändern des hufeisenförmigen Beckens, verloren sich einige wenige Fischerboote.
Das schöne Wetter über den Rest der Woche sorgte dafür, dass sich das Schauspiel wiederholte. Carlo traf zur üblichen Zeit an seinem Quader ein, die Hafenqueen zur Abnahme ihrer Parade immer vier Minuten später. Und selbstverständlich jeden Tag in einem anderen Outfit. Erst Donnerstag schlug Carlos Bewunderung in weitergehendes Interesse um. Ihn verwirrte, dass diese Komposition aus schier unerschöpflichem Kleiderreservoire und gleichbleibend hohen Haltungsnoten um Punkt 13 Uhr aufstand, etwas Geld auf den Tisch legte und sich wesentlich schnelleren Schrittes entfernte, als sie zuvor gekommen war. Freitag wartete er zur gewohnten Zeit auf sie und wurde nicht enttäuscht. Sie trug eine Kopfbedeckung in der Art eines Sombreros, der allerdings bei neunzig Grad gewaschen worden sein musste, denn es fehlte ihm deutlich an Größe. Dazu einen beigen Hosenanzug mit einem pistazienfarbenen Gürtel, dessen Schnalle in seinen Augen einem Kanaldeckel glich. Auf die Minute erhob sie sich, platzierte das Geld und ließ einen Rest Schaum des Latte macchiato sowie einige ehrfürchtig Blickende an den Nachbartischen zurück. Carlo sah auf die Uhr. Er hatte schon frei, seine Schicht war freitags bereits mittags zu Ende und so wollte er gemütlich hinter ihr herschlendern. Doch Madame war ausgesprochen forschen Schrittes unterwegs. Mühe bereitete es ihm noch nicht, aber es bedurfte einer guten Kondition, ihr zu folgen.
In genau diesem Theater saß er einen Tag später. Das Boulevard-Stück war unterhaltsam, riss ihn aber nicht von den Sitzen. Dennoch verfolgte er die Verwechslungskomödie mit einem steten Schmunzeln im Gesicht. An der Garderobe löste er seine Jacke wieder aus und trat Pläne schmiedend hinaus in die Nacht.
„Gestatten Gnädigste, dass ich mich vorstelle? Münchhausen, Baron. Darf ich Sie auf ein Getränk einladen?“
Sie sah zur Seite, nicht der Hauch eines Mienenspiels wich am Abstandhalter vorbei nach oben. Sie war offenbar verwirrt, brachte erst keinen Ton heraus.
„Münchhausen“, sagte sie plötzlich, „wie lächerlich. Sie sind gar nicht passend dafür angezogen.“
„Das stimmt“, antwortete er und setzte sich einfach. „Aber mir fehlen ja auch Ihre Möglichkeiten, was Kleidung angeht. In meiner Wäscherei gibt es nur Laken und Handtücher. Bei Ihnen im Theater geht da schon viel mehr.“
Er legte eine Garderobenmarke auf den Tisch.
„Hier“, sagte er, „die haben Sie gestern nicht von meiner Jacke abgemacht, als Sie sie mir zurückgegeben haben. Ich kenne Ihr kleines Geheimnis.“
Sie war nervös, kramte in der Handtasche.
„Entspannen Sie sich! Was möchten Sie trinken? Wir haben noch achtzehn Minuten, dann muss ich wieder an meine Bügelmaschine zurück und Sie in die Garderobe. Ich heiße übrigens Carlo. Mir gefällt Ihre Art von Mittagspause.“
Version 2
Letzte Aktualisierung: 08.03.2015 - 19.49 Uhr Dieser Text enthält 9974 Zeichen.